Heidi und andere klassische Kindergeschichten
ging ein wenig nach der andern Seite hinüber, dann das hatte sie nun schon durchgesprochen. Sie wollte einmal nach den alten Tannen sehen.
Da harrte ihrer schon wieder etwas Unerwartetes. Mitten unter den Bäumen, da, wo die langen Äste noch einen freien Platz gelassen hatten, stand ein großer Busch der wundervollsten, dunkelblauen Enzianen, so frisch und glänzend, als wären sie eben da herausgewachsen. Die Großmama schlug die Hände zusammen vor Entzücken.
»Wie köstlich! Wie prächtig! Welch ein Anblick!« rief sie ein Mal ums andere aus. »Heidi, mein liebes Kind, komm hierher! Hast du mir das zur Freude bereitet? Es ist vollkommen wundervoll.«
Die Kinder waren schon da.
»Nein, nein, ich gewiß nicht«, sagte das Heidi, »aber ich weiß schon, wer’s gemacht hat.«
»So ist’s droben auf der Weide, Großmama, und noch viel schöner«, fiel hier Klara ein. »Aber rat einmal, wer dir heut früh schon die Blumen von der Weide heruntergeholt hat!« Und Klara lächelte so vergnüglich zu ihrer Rede, daß der Großmama einen Augenblick der Gedanke kam, das Kind sei am Ende heute selbst schon dort oben gewesen. Das war doch aber fast nicht möglich.
Jetzt hörte man ein leises Geräusch hinter den Tannenbäumen; es kam vom Peter her, der unterdessen hier oben angelangt war. Da er aber gesehen hatte, wer beim Öhi vor der Hütte stand, hatte er einen großen Bogen gemacht und wollte nun ganz heimlich hinter den Tannen hinaufschleichen. Aber die Großmama hatte ihn erkannt, und plötzlich stieg ein neuer Gedanke in ihr auf. Sollte der Peter die Blumen heruntergebracht haben und nun aus lauter Scheu und Bescheidenheit so heimlich vorbeischleichen wollen? Nein, das durfte nicht sein, er sollte doch eine kleine Belohnung haben.
»Komm, mein Junge, komm hier heraus, frisch, ohne Scheu!« rief die Großmama laut und steckte ein wenig den Kopf zwischen die Bäume hinein.
Starr vor Schrecken stand der Peter still. Er hatte keine Widerstandskraft mehr nach allem Erlebten. Er fühlte nur noch das eine: Jetzt ist’s aus! Alle Haare standen ihm aufrecht auf dem Kopf, und farblos und entstellt von höchster Angst trat der Peter hinter den Tannen hervor.
»Nur frisch heran, ohne Umwege«, ermunterte die Großmama. »So, nun sag mir mal, Junge, hast du das gemacht?«
Der Peter hob seine Augen nicht auf und sah nicht, wohin der Zeigefinger der Großmama wies. Er hatte gesehen, daß der Öhi an der Ecke der Hütte stand und daß dessen graue Augen durchdringend auf ihn gerichtet waren, und neben dem Öhi stand das Schrecklichste, das der Peter kannte, der Polizeidiener aus Frankfurt. An allen Gliedern zitternd und bebend, stieß der Peter einen Laut hervor, es war ein »Ja«.
»Nanu«, sagte die Großmama, »was ist denn das Schreckliche dabei?«
»Daß er… daß er… daß er auseinander ist und man ihn nicht mehr ganz machen kann«, brachte mühsam der Peter heraus, und nun schlotterten seine Knie so, daß er fast nicht mehr stehen konnte. Die Großmama ging nach der Hüttenecke hinüber.
»Mein lieber Öhi, rappelt es denn wirklich ernstlich bei dem armen
Buben?« fragte sie teilnehmend.
»Gar nicht, gar nicht«, versicherte der Öhi. »Der Bube ist nur der Wind, der den Rollstuhl fortgejagt hat, und nun erwartet er seine wohlverdiente Strafe.«
Das konnte nun die Großmama gar nicht glauben, denn sie meinte, boshaft sehe der Peter doch ganz und gar nicht aus, und sonst hätte er doch keinen Grund gehabt, den so notwendigen Rollstuhl zu zerstören.
Aber dem Öhi war das Geständnis nur die Bestätigung eines Verdachtes gewesen, der gleich nach der Tat in ihm aufgestiegen war. Die grimmigen Blicke, die der Peter von Anfang an der Klara zugeworfen hatte, und andere Merkmale seiner Erbitterung gegen die neuen Erscheinungen auf der Alp waren dem Öhi nicht entgangen. Er hatte einen Gedanken an den andern gehängt, und so hatte er genau den ganzen Gang der Dinge erkannt und teilte ihn jetzt der Großmama in aller Klarheit mit. Als er zu Ende war, brach die Dame in große Lebhaftigkeit aus.
»Nein, mein lieber Öhi, nein, nein, den armen Buben wollen wir nicht weiter strafen. Man muß billig sein. Da kommen die fremden Leute aus Frankfurt hereingebrochen und nehmen ihm ganze Wochen lang das Heidi weg, sein einziges Gut und wirklich ein großes Gut, und da sitzt er allein Tag für Tag und hat das Nachsehen. Nein, nein, da muß man billig sein; der Zorn hat ihn überwältigt und hat ihn zu der Rache getrieben,
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