Heidi und andere klassische Kindergeschichten
eilig herunter. Bevor sie aber noch bei den Kindern angekommen war, schlug sie die Hände zusammen und rief in der höchsten Aufregung:
»Klärchen, bist du’s, oder bist du’s nicht? Du hast ja rote Wangen, kugelrunde! Kind! Ich kenne dich nicht mehr!« Jetzt wollte die Großmama auf Klara losstürzen. Aber unversehens war das Heidi von der Bank geglitten, Klara hatte sich schnell auf seine Schultern gestützt, und fort wanderten die Kinder, ganz gelassen einen kleinen Spaziergang machend. Die Großmama war plötzlich stillgestanden, erst vor Schrecken, sie meinte nicht anders, als das Heidi stelle eben etwas Unerhörtes an.
Aber was sah sie vor sich!
Aufrecht und sicher ging Klara neben dem Heidi her; jetzt kamen sie wieder zurück, beide mit strahlenden Gesichtern, beide mit rosenroten Backen.
Jetzt stürzte die Großmama ihnen entgegen. Lachend und weinend umarmte sie ihr Klärchen, dann das Heidi, dann wieder Klara. Vor Freude fand die Großmama gar keine Worte.
Auf einmal fiel ihr Blick auf den Öhi, der bei der Bank stand und mit behaglichem Lächeln nach den dreien herüberschaute. Jetzt faßte die Großmama Klaras Arm in den ihrigen und wanderte mit ihr unter immerwährenden Ausrufungen des Entzückens, daß es ja wirklich so sei, daß sie umherwandern könne mit dem Kinde, der Bank zu. Hier ließ sie Klara los und ergriff den Alten bei beiden Händen.
»Mein lieber Öhi! Mein lieber Öhi! Was haben wir Ihnen zu danken! Es ist Ihr Werk! Es ist Ihre Sorge und Pflege…«
»Und unseres Herrgotts Sonnenschein und Almluft«, fiel der Öhi lächelnd ein.
»Ja, und Schwänlis gute, schöne Milch gewiß auch«, rief nun Klara ihrerseits. »Großmama, du solltest nur wissen, wie ich die Geißenmilch trinken kann und wie gut sie ist!«
»Ja, das kann ich an deinen Backen sehen, Klärchen«, sagte jetzt die Großmama lachend. »Nein, dich kennt man nicht mehr; rund, breit bist du ja geworden, wie ich nie geahnt, daß du je werden könntest, und groß bist du, Klärchen! Nein, ist es denn auch wahr? Ich kann dich ja nicht genug ansehen! Aber nun muß auf der Stelle telegrafiert werden an meinen Sohn in Paris, er muß sogleich kommen. Ich sag ihm nicht, warum, das ist die größte Freude seines Lebens. Mein lieber Öhi, wie machen wir das? Sie haben wohl die Männer schon entlassen?«
»Die sind fort«, antwortete er, »aber wenn’s der Frau Großmama pressiert, so läßt man den Geißenhüter herunterkommen, der hat Zeit.«
Die Großmama bestand darauf, sofort ihrem Sohne eine Depesche zu schicken, denn dieses Glück sollte ihm keinen Tag vorenthalten bleiben.
Nun ging der Öhi ein wenig auf die Seite, und hier tat er einen so durchdringenden Pfiff durch seine Finger, daß es hoch oben von den Felsen zurückpfiff, so weit weg hatte er das Echo geweckt. Es währte gar nicht lange, so kam der Peter heruntergerannt, er kannte den Pfiff wohl. Der Peter war kreideweiß, denn er dachte, der Almöhi rufe ihn zum Gericht. Es wurde ihm aber nur ein Papier übergeben, das die Großmama unterdessen überschrieben hatte, und der Öhi erklärte ihm, er habe das Papier sofort ins Dörfli hinunterzutragen und auf dem Postamt abzugeben, die Bezahlung werde der Öhi später selbst in Ordnung bringen, denn so viele Dinge auf einmal konnte man dem Peter nicht übertragen.
Dieser ging nun mit seinem Papier in der Hand, für diesmal wieder erleichtert, davon, denn der Öhi hatte ja nicht zum Gericht gepfiffen, es war kein Polizeidiener angekommen.
Endlich konnte man sich denn fest und ruhig zusammen um den Tisch vor der Hütte herumsetzen, und nun mußte der Großmama erzählt werden, wie von Anfang an alles sich zugetragen hatte. Wie zuerst der Großvater jeden Tag ein wenig das Stehen und dann ein Schrittchen mit Klara probiert hatte, wie dann die Reise auf die Weide gekommen war und der Wind den Rollstuhl fortgejagt hatte. Wie Klara vor Begierde nach den Blumen den ersten Gang machen konnte und so eins aus dem andern gekommen war. Aber es währte lange, bis diese Erzählung von den Kindern zu Ende gebracht wurde, denn zwischendurch mußte die Großmama immer wieder in Verwunderung und in Lob und Dank ausbrechen, und immer wieder rief sie aus: »Aber ist es denn auch möglich! Ist es denn auch wirklich kein Traum? Sind wir denn auch alle wach, und sitzen wir hier vor der Almhütte, und das Mädchen vor mir mit dem runden, frischen Gesicht ist mein altes, bleiches, kraftloses Klärchen?«
Und Klara und Heidi hatten immer
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