Heidi und andere klassische Kindergeschichten
beruhigte Fräulein Rottenmeier, indem er sie versicherte, dass er die Wahrnehmung gemacht habe, die Adelheid sei zwar einerseits allerdings eher exzentrisch, aber anderseits doch wieder bei richtigem Verstand, so dass sich nach und nach bei einer allseitig erwogenen Behandlung das nötige Gleichgewicht einstellen könne, was er im Auge habe; er finde den Umstand wichtiger, dass er durchaus nicht über das Abc hinauskomme mit ihr, indem sie die Buchstaben nicht zu fassen imstande sei.
Fräulein Rottenmeier fühlte sich beruhigter und entließ den Herrn Kandidaten zu seiner Arbeit. Am späteren Nachmittag stieg ihr die Erinnerung an Heidis Aufzug bei seiner vorgehabten Abreise auf, und sie beschloss, die Gewandung des Kindes durch verschiedene Kleidungsstücke der Klara in den nötigen Stand zu setzen, bevor Herr Sesemann erscheinen würde. Sie teilte ihre Gedanken darüber an Klara mit, und da diese mit allem einverstanden war und dem Heidi eine Menge Kleider und Tücher und Hüte schenken wollte, verfügte sich die Dame in Heidis Zimmer, um seinen Kleiderschrank zu besehen und zu untersuchen, was da von dem Vorhandenen bleiben und was entfernt werden solle. Aber in wenig Minuten kam sie wieder zurück mit Gebärden des Abscheus. “Was muss ich entdecken, Adelheid!”, rief sie aus. “Es ist nie dagewesen! In deinem Kleiderschrank, einem Schrank für Kleider, Adelheid, im Fuß dieses Schrankes, was finde ich? Einen Haufen kleiner Brote! Brot, sage ich, Klara, im Kleiderschrank! Und einen solchen Haufen aufspeichern!”—“Tinette”, rief sie jetzt ins Esszimmer hinaus, “schaffen Sie mir das alte Brot fort aus dem Schrank der Adelheid und den zerdrückten Strohhut auf dem Tisch!”
“Nein! Nein!”, schrie Heidi auf; “ich muss den Hut haben, und die Brötchen sind für die Großmutter”, und Heidi wollte der Tinette nachstürzen, aber es wurde von Fräulein Rottenmeier festgehalten.
“Du bleibst hier und der Kram wird hingebracht, wo er hingehört”, sagte sie bestimmt und hielt das Kind zurück. Aber nun warf sich Heidi an Klaras Sessel nieder und fing ganz verzweiflungsvoll zu weinen an, immer lauter und schmerzlicher, und schluchzte ein Mal ums andere in seinem Jammer auf: “Nun hat die Großmutter keine Brötchen mehr. Sie waren für die Großmutter, nun sind sie alle fort und die Großmutter bekommt keine!”, und Heidi weinte auf, als wollte ihm das Herz zerspringen. Fräulein Rottenmeier lief hinaus. Klara wurde es angst und bange bei dem Jammer. “Heidi, Heidi, weine nur nicht so”, sagte sie bittend, “hör mich nur! Jammere nur nicht so, sieh, ich verspreche dir, ich gebe dir gerade so viel Brötchen für die Großmutter, oder noch mehr, wenn du einmal heimgehst, und dann sind diese frisch und weich, und die deinen wären ja ganz hart geworden und waren es schon. Komm, Heidi, weine nur nicht mehr so!”
Heidi konnte noch lange nicht aus seinem Schluchzen herauskommen; aber es verstand Klaras Trost und hielt sich daran, sonst hätte es gar nicht mehr zu weinen aufhören können. Es musste auch noch mehrere Male seiner Hoffnung gewiss werden und Klara, durch die letzten Anfälle von Schluchzen unterbrochen, fragen: “Gibst du mir so viele, viele, wie ich hatte, für die Großmutter?”
Und Klara versicherte immer wieder: “Gewiss, ganz gewiss, noch mehr, sei nur wieder froh!”
Noch zum Abendtisch kam Heidi mit den rot verweinten Augen, und als es sein Brötchen erblickte, musste es gleich noch einmal aufschluchzen. Aber es bezwang sich jetzt mit Gewalt, denn es verstand, dass es sich am Tisch ruhig verhalten musste. Sebastian machte heute jedes Mal die merkwürdigsten Gebärden, wenn er in Heidis Nähe kam; er deutete bald auf seinen, bald auf Heidis Kopf, dann nickte er wieder und kniff die Augen zu, so als wollte er sagen: “Nur getrost! Ich hab’s schon gemerkt und besorgt.”
Als Heidi später in sein Zimmer kam und in sein Bett steigen wollte, lag sein zerdrücktes Strohhütchen unter der Decke versteckt. Mit Entzücken zog es den alten Hut hervor, zerdrückte ihn vor lauter Freude noch ein wenig mehr und versteckte ihn dann, in ein Taschentüchlein eingewickelt, in die allerhinterste Ecke seines Schrankes. Das Hütchen hatte der Sebastian unter die Decke gesteckt; er war zu gleicher Zeit mit Tinette im Esszimmer gewesen, als diese gerufen wurde, und hatte Heidis Jammerruf vernommen. Dann war er Tinette nachgegangen, und als sie aus Heidis Zimmer heraustrat mit ihrer Brotlast
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