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Heidi und andere klassische Kindergeschichten

Heidi und andere klassische Kindergeschichten

Titel: Heidi und andere klassische Kindergeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Spyri
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getrost sein.”
    In Heidis Zimmer eingetreten, stellte der Doktor seinen Leuchter auf den Tisch, nahm Heidi auf den Arm, legte es in sein Bett hinein und deckte es sorgfältig zu. Dann setzte er sich auf den Sessel am Bett und wartete, bis Heidi ein wenig beruhigt war und nicht mehr an allen Gliedern bebte. Dann nahm er das Kind bei der Hand und sagte begütigend: “So, nun ist alles in Ordnung, nun sag mir auch noch, wo wolltest du denn hin?”
    “Ich wollte gewiss nirgends hin”, versicherte Heidi; “ich bin auch gar nicht selbst hinuntergegangen, ich war nur auf einmal da.”
    “So, so, und hast du etwa geträumt in der Nacht, weißt du, so, dass du deutlich etwas sahst und hörtest?”
    “Ja, jede Nacht träumt es mir und immer gleich. Dann mein ich, ich sei beim Großvater, und draußen hör ich’s in den Tannen sausen und denke: Jetzt glitzern so schön die Sterne am Himmel, und ich laufe geschwind und mache die Tür auf an der Hütte und da ist’s so schön! Aber wenn ich erwache, bin ich immer noch in Frankfurt.” Heidi fing schon an zu kämpfen und zu schlucken an dem Gewicht, das den Hals hinaufstieg.
    “Hm, und tut dir denn auch nichts weh, nirgends? Nicht im Kopf oder im Rücken?”
    “O nein, nur hier drückt es so wie ein großer Stein immerfort.”
    “Hm, etwa so, wie wenn man etwas gegessen hat und wollte es nachher lieber wieder zurückgeben?”
    “Nein, so nicht, aber so schwer, wie wenn man stark weinen sollte.”
    “So, so, und weinst du denn so recht heraus?”
    “O nein, das darf man nicht, Fräulein Rottenmeier hat es verboten.”
    “Dann schluckst du’s herunter zum andern, nicht wahr, so? Richtig!
Nun, du bist doch recht gern in Frankfurt, nicht?”
    “O ja”, war die leise Antwort; sie klang aber so, als bedeute sie eher das Gegenteil.
    “Hm, und wo hast du mit deinem Großvater gelebt?”
    “Immer auf der Alm.”
    “So, da ist’s doch nicht so besonders kurzweilig, eher ein wenig langweilig, nicht?”
    “O nein, da ist’s so schön, so schön!” Heidi konnte nicht weiter; die Erinnerung, die eben durchgemachte Aufregung, das lang verhaltene Weinen überwältigten die Kräfte des Kindes; gewaltsam stürzten ihm die Tränen aus den Augen und es brach in ein lautes, heftiges Schluchzen aus.
    Der Doktor stand auf; er legte freundlich Heidis Kopf auf das Kissen nieder und sagte: “So, noch ein klein wenig weinen, das kann nichts schaden, und dann schlafen, ganz fröhlich einschlafen; morgen wird alles gut.” Dann verließ er das Zimmer.
    Wieder unten in die Wachtstube eingetreten, ließ er sich dem harrenden Freunde gegenüber in den Lehnstuhl nieder und erklärte dem mit gespannter Erwartung Lauschenden: “Sesemann, dein kleiner Schützling ist erstens mondsüchtig; völlig unbewusst hat er dir allnächtlich als Gespenst die Haustür aufgemacht und deiner ganzen Mannschaft die Fieber des Schreckens ins Gebein gejagt. Zweitens wird das Kind vom Heimweh verzehrt, so dass es schon jetzt fast zum Geripplein abgemagert ist und es noch völlig werden würde; also schnelle Hilfe! Für das erste Übel und die in hohem Grade stattfindende Nervenaufregung gibt es nur ein Heilmittel, nämlich, dass du sofort das Kind in die heimatliche Bergluft zurückversetzest; für das zweite gibt’s ebenfalls nur (eine) Medizin, nämlich ganz dieselbe. Demnach reist das Kind morgen ab, das ist mein Rezept.”
    Herr Sesemann war aufgestanden. In größter Aufregung lief er das Zimmer auf und ab; jetzt brach er aus: “Mondsüchtig! Krank! Heimweh! Abgemagert in meinem Hause! Das alles in meinem Hause! Und niemand sieht zu und weiß etwas davon! Und du, Doktor, du meinst, das Kind, das frisch und gesund in mein Haus gekommen ist, schicke ich elend und abgemagert seinem Großvater zurück? Nein, Doktor, das kannst du nicht verlangen, das tu ich nicht, das werde ich nie tun. Jetzt nimm das Kind in die Hand, mach Kuren mit ihm, mach, was du willst, aber mach es mir heil und gesund, dann will ich es heimschicken, wenn es will; aber erst hilf du!”
    “Sesemann”, entgegnete der Doktor ernsthaft, “bedenke, was du tust! Dieser Zustand ist keine Krankheit, die man mit Pulvern und Pillen heilt. Das Kind hat keine zähe Natur, indessen, wenn du es jetzt gleich wieder in die kräftige Bergluft hinaufschickst, an die es gewöhnt ist, so kann es wieder völlig gesunden; wenn nicht—du willst nicht, dass das Kind dem Großvater unheilbar oder gar nicht mehr zurückkomme?”
    Herr Sesemann war

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