Bernsteinsommer (German Edition)
1. KAPITEL
D as Haus war zweifellos eine Überraschung.
Finn Andersen blieb fast ein wenig verblüfft neben seinem Wagen stehen und betrachtete eingehend das imposante Gebäude, in dem er die nächsten Wochen logieren würde. Erst nach einer ganzen Weile löste er den Blick von dem Haus und sah sich um. Er betrachtete die schöne, wild anmutende Umgebung nicht etwa neugierig oder gar begeistert, sondern viel eher abschätzend und mit der erforderlichen Gründlichkeit, die ihm in den vergangenen Jahren zu eigen geworden war.
Das Rauschen des Meeres, das wilde Geschrei der Möwen und das im heftigen Wind wogende Dünengras mit seinen dekorativen getreideähnlichen Ähren nahm er hingegen kaum wahr.
Schließlich blieb sein Blick am spitz zulaufenden Dach eines anderen Hauses hängen, das er deutlich erkennen konnte, wenn er sich nur ein Stückchen Richtung Norden wandte. Von hier aus betrachtet wirkte das hübsche kleine Haus allerdings viel näher, als es in Wirklichkeit war. Und zu Fuß würde es mindestens noch fünfzehn Minuten dauern, bis man es erreichte. Es lag einsamer in den Dünen als all die anderen Inselhäuser, aber das kam vielleicht daher, dass es das nördlichste Gebäude auf Sameland war.
Die kleine Insel sah auf der Landkarte aus wie ein leicht verformter Halbmond, dessen südliche Spitze sich dem Festland entgegenreckte. Dort am Anleger war Finn selbst vor etwa zwanzig Minuten mit der kleinen Fähre angekommen, die regelmäßig zwischen dem Festland und Sameland verkehrte.
Wenn man einmal von dem kleinen Dorf direkt am Fähranleger absah, gab es nur noch wenige Häuser auf der Insel, aber jedes für sich stand zum Schutz gegen das manchmal unberechenbare Wasser auf einer sanft ansteigenden Anhöhe. Dazwischen lag nur flaches Land – sehr flaches Land, eingerahmt von Dünen, Deichen und schließlich dem Meer, der Ostsee.
Finn wusste, dass die junge Frau, auf die er wartete, noch nicht eingetroffen sein konnte. Sie würde erst mit der nächsten Fähre in zwei Stunden ankommen. Er zog kurz in Erwägung, sich das Haus am Ende der Straße noch einmal genauer anzusehen, verwarf den Gedanken dann jedoch. Wenn alles nach Plan verlief, würde er noch genügend Gelegenheiten erhalten, um sich dort in aller Ruhe umzusehen. Und natürlich würde alles nach Plan verlaufen, dafür würde er schon sorgen, denn das war schließlich sein Job.
Finn wandte sich um und zog eine große Reisetasche aus schwarzem Nylon vom Rücksitz seines Jeeps. Mit einer lässigen Bewegung warf er sich die prall gefüllte Tasche über die rechte Schulter, griff nach seinem kleinen, flachen Aktenkoffer, in dem auch sein Laptop war, und ging auf die Eingangstür seiner neuen Unterkunft zu.
Ein Ferienhaus sieht normalerweise anders aus, wunderte er sich noch einmal. Dieses prächtige Anwesen wirkte viel eher wie das luxuriöse Wohnhaus einer mindestens sechsköpfigen Familie und hätte auch in jeder besseren Wohngegend seiner Heimatstadt stehen können. Es war aus schneeweißem Kalksandstein erbaut worden und hatte hohe, ebenfalls weiße Sprossenfenster und Türen. Das mächtige Walmdach war mit schiefergrauen Schindeln gedeckt, die in der Sonne glänzten. Finn schätzte, dass es bei Weitem das größte Haus hier auf der Insel war. Nun ja, dachte er, es gehörte schließlich auch einem sehr reichen Mann.
Langsam stieg er die drei halbrunden Stufen bis zur Eingangstür empor und zog den Schlüssel aus der Tasche, den er erst vor zwei Tagen von seinem Arbeitgeber erhalten hatte. Drinnen roch es ein wenig nach abgestandener Luft und Staub. Er ließ seine Reisetasche auf die rostroten Fliesen des Eingangsbereichs fallen und stieß die nächste Tür auf. Mit Ausnahme des relativ kleinen Windfangs und der Gästetoilette, die direkt von dort abging, bestand das gesamte untere Geschoss offenbar aus einem einzigen riesigen Raum, der für Finns Geschmack viel zu modern eingerichtet war. Ohne große Gefühlsregungsah er sich um.
Auf der rechten Seite trennte ein breiter brusthoher Frühstückstresen aus hellem Pinienholz die integrierte Küche vom Wohnbereich ab. Vor dem Tresen standen vier Hocker, die mit dem gleichen weinroten Leder bezogen waren wie die hufeisenförmige Couch im Wohnbereich. In der Mitte dieses Hufeisens befand sich ein schwarzer Steinquader, der als Couchtisch diente. Die Lampen und alle weiteren Möbel – ein paar Beistelltische, Vitrinen und Kommoden – bestanden überwiegend aus Glas und Chrom.
Finn ging quer
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