Heidi und andere klassische Kindergeschichten
unterbrach. Jetzt kam durch das offene Fenster ein Sonnenstrahl so lustig hereingeschossen, und es war geradezu, als riefe er: »Komm heraus, Heidi, komm heraus!« Da konnte es nicht mehr drinnen bleiben, es rannte hinaus. Da lag der funkelnde Sonnenschein um die ganze Hütte herum, und auf allen Bergen glänzte er und weit, weit das Tal hinunter, und der Boden dort am Abhang sah so goldig und trocken aus, es mußte ein wenig darauf niedersetzen und umherschauen. Dann kam ihm auf einmal in den Sinn, daß das Dreibeinstühlchen noch mitten in der Hütte stand und der Tisch noch nicht geputzt war vom Morgenessen. Nun sprang es schnell auf und lief in die Hütte zurück. Aber es währte gar nicht lange, so sauste es draußen so mächtig durch die Tannen, daß es dem Heidi in alle Glieder fuhr, es mußte schon wieder hinaus und ein wenig mithüpfen, wenn alle Zweige da droben hin und her wogten und rollten. Der Großvater hatte einstweilen hinten im Schopf allerlei Arbeit zu verrichten; er trat von Zeit zu Zeit unter die Tür hinaus und schaute lächelnd Heidis Sprüngen zu. Eben war er wieder zurückgetreten, als mit einemmal das Heidi laut aufschrie:
»Großvater, Großvater! Komm, komm!«
Er trat rasch wieder heraus, fast erschrocken, was mit dem Kinde sei. Da sah er, wie dieses dem Abhange zulief, laut schreiend: »Sie kommen, sie kommen! Und voran der Herr Doktor!«
Das Heidi stürzte seinem alten Freunde entgegen. Dieser streckte grüßend die Hand aus. Wie das Kind ihn erreicht hatte, umfaßte es zärtlich den ausgestreckten Arm und rief in voller Herzensfreude: »Guten Tag, Herr Doktor! Und ich danke auch noch vieltausendmal!«
»Grüß Gott, Heidi! Und wofür dankst du denn schon?« fragte freundlich lächelnd der Herr Doktor.
»Daß ich wieder heim konnte zum Großvater«, erklärte ihm das Kind.
Dem Herrn Doktor ging’s wie ein Sonnenschein über das Gesicht. Diesen Empfang auf der Alp hatte er nicht erwartet. Im Gefühl seiner Einsamkeit war er unter tiefsinnigen Gedanken den Berg hinaufgestiegen und hatte noch nicht einmal gesehen, wie schön es um ihn her war und daß es immer schöner wurde. Er hatte angenommen, das Kind Heidi werde ihn kaum mehr kennen; es hatte ihn so wenig gesehen, und er kam sich vor wie einer, der kommt, den Leuten eine Enttäuschung zu bereiten, und den sie darum nicht ansehen mögen, weil er ja die erwarteten Freunde nicht mitbrachte. Statt dessen leuchtete dem Heidi die helle Freude aus den Augen, und voller Dank und Liebe hielt es immer noch den Arm seines guten Freundes fest.
Mit väterlicher Zärtlichkeit nahm der Herr Doktor das Kind bei der Hand. »Komm, Heidi«, sagte er in freundlichster Weise, »führe mich nun zu deinem Großvater und zeige mir, wo du daheim bist.«
Aber das Heidi blieb noch stehen und schaute verwundert den Berg hinunter.
»Wo sind denn Klara und die Großmama?« fragte es jetzt.
»Ja, nun muß ich dir’s sagen, was dir leid tun wird wie mir auch«, erwiderte der Herr Doktor. »Sieh, Heidi, ich komme allein. Klara war recht krank und konnte nicht mehr reisen, und so kam auch die Großmama nicht mit. Aber dann im Frühjahr, wenn die Tage wieder warm und schön lang werden, dann kommen sie ganz sicher.«
Das Heidi stand sehr betroffen da; es konnte gar nicht fassen, daß es nun alles, was es so sicher vor sich gesehen hatte, auf einmal gar nicht mehr sehen sollte. Regungslos stand es eine Weile wie verwirrt von dem Unerwarteten. Schweigend stand der Herr Doktor vor ihm, und ringsum war alles still, nur hoch oben hörte man den Wind durch die Tannen sausen. Da fiel es dem Heidi auf einmal wieder ein, warum es heruntergelaufen sei und daß der Herr Doktor ja gekommen sei. Es schaute zu ihm auf. Da lag etwas so Trauriges in den Augen, die zu ihm niederschauten, wie es noch gar nicht gesehen hatte. So war es nie gewesen, wenn der Herr Doktor in Frankfurt es angeblickt hatte. Das ging dem Heidi zu Herzen; es konnte nicht sehen, daß jemand traurig war, und nun gar der gute Herr Doktor. Gewiß war er so, weil Klara und die Großmama nicht hatten mitkommen können. Es suchte schnell nach einem Trost und fand ihn.
»Oh, es währt gewiß nicht lange, bis es wieder Frühling wird, und dann kommen sie ja bestimmt«, tröstete das Heidi. »Bei uns währt es gar nie lange, und dann können sie ja viel länger dableiben, das will die Klara gewiß noch lieber. Und jetzt wollen wir zum Großvater hinauf.« Hand in Hand mit dem guten Freunde stieg es nun zu
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