Heidi
du Großmama zu ihr sagst“, trichterte sie Heidi ein. „Für dich ist Frau Sesemann die gnädige Frau, verstanden?“
Heidi nickte artig und fieberte gemeinsam mit Klara der Ankunft der Großmama entgegen.
Am Nachmittag war es endlich so weit.
Heidi staunte nicht schlecht.
Frau Sesemann fuhr
in einer großen Kutsche vor.
Viele Koffer und Hutschachteln
wurden ins Haus getragen.
Frau Sesemann war eine sehr feine Dame.
Heidi machte einen Knicks und sagte:
„Guten Tag, Frau Gnädige.“
Da lachte Frau Sesemann herzlich. „Du bist Heidi, Klaras beste Freundin, nicht wahr? Und deshalb bin ich nicht nur Klaras Großmama, sondern auch deine. Und ebenso wie Klara habe ich auch dir ein Geschenk mitgebracht“, setzte sie hinzu und reichte Heidi ein schweres, bunt verpacktes Paket. „Nach dem Abendessen packen wir es zusammen aus.“
Heidi war schrecklich aufgeregt.
Noch nie hatte ihr jemand etwas geschenkt.
Was sich wohl in dem Paket befand?
Sie musste sich allerdings noch eine ganze Weile gedulden, denn zuerst durfte Klara ihr Geschenk auspacken: eine feine Puppe aus Porzellan, die lange dunkle Locken hatte und sehr hübsch anzusehen war. „So, und jetzt bist du dran“, sagte die Großmama und ließ sich neben Heidi auf dem Sofa nieder.
Heidis Finger zitterten, als sie das bunte Papier ablöste, und sie staunte nicht schlecht, als sie kurz darauf ein dickes Buch in den Händen hielt.
„Schlag es auf!“, rief Klara. „Und schau hinein.“
Behutsam hob Heidi den Buchdeckel an und blätterte die erste Doppelseite auf. Neben unendlich vielen Fliegenbein-Buchstaben waren dort wunderschöne Zeichnungen abgebildet. Sie erzählten von Bergen, Wiesen, Wäldern und all den Tieren und Menschen, die dort lebten.
Heidis Herz schlug höher.
Sie konnte sich nicht sattsehen.
„Möchtest du ihre Geschichte erfahren?“,
fragte die Großmama.
Sie legte Heidi ihren Arm um die Schulter
und begann zu lesen.
Heidi und Klara lauschten andächtig, und Heidi folgte aufmerksam Frau Sesemanns Zeigefinger, der langsam von Wort zu Wort glitt. Schließlich hörte die Großmama an der spannendsten Stelle auf, klappte das Buch zu und fragte: „Wäre es nicht schön, wenn du selber weiterlesen könntest?“
Heidi sah sie mit großen Augen an. „Ja“, erwiderte sie aus ganzem Herzen. Die Geschichte über die Berggämsen und ihren Schäfer stand Heidi klar und lebendig vor Augen, und mit einem Mal kamen ihr die Buchstaben nicht mehr wie Fliegenbeine vor, sondern wie Zauberzeichen, die gar nicht so schwer zu entschlüsseln waren.
Abends im Bett las Heidi allein weiter. Es ging nur langsam voran. Manche Buchstaben gaben ihr Rätsel auf, andere wiederum waren ganz einfach.
Schließlich schlief Heidi erschöpft,
aber glücklich ein und träumte von der Alm.
Spuk im Hause Sesemann
Die Großmama blieb eine ganze Weile und jeden Tag ließ sie sich etwas neues Aufregendes einfallen. Einmal war es ein Ausflug in die Natur, dann ein Versteckspiel im Haus oder ein Musikabend. Und jeden Tag saßen sie zu dritt zusammen in Klaras Zimmer und lasen abwechselnd aus Heidis Buch.
Heidi machte gute Fortschritte, und am Ende las sie die letzten Seiten ganz allein, ohne ein einziges Mal ins Stocken zu geraten.
„Ich bin sehr stolz auf dich“, sagte die Großmama lächelnd. „Wenn ich das nächste Mal zu Besuch komme, bringe ich dir noch ein Buch mit.“
„Willst du etwa schon heimfahren?“, fragte Heidi erschrocken.
„Es wird in der Tat höchste Zeit, dass ich in meinem Haus nach dem Rechten sehe“, erwiderte Frau Sesemann. „Aber sei nicht traurig, wir sehen uns bestimmt bald wieder.“
Heidi gab sich alle Mühe, nicht schon wieder in Tränen auszubrechen. Frau Sesemanns bevorstehende Abreise stürzte sie in tiefe Verzweiflung. Die Zeit mit der Großmama war so schön und abwechslungsreich gewesen, dass Heidi den Großvater und die Alm fast vergessen hatte. Dafür war die Sehnsucht nun umso größer.
Heidi verlor ihren Appetit, träumte wild und wurde von Tag zu Tag blasser. Klara und ihr Vater machten sich große Sorgen um sie. Und dann geschahen auch noch seltsame Dinge im Haus. Der Diener Sebastian bemerkte es als Erster. Eines Morgens stand die Haustür sperrangelweit auf.
Einen Tag später
waren drei Fenster geöffnet.
Der Wind blies herein
und schließlich
stand sogar die Dachluke offen.
Fräulein Rottenmeier ließ alles vom Keller bis zum Dachboden durchsuchen, als jedoch nichts zu finden war,
Weitere Kostenlose Bücher