Heilige Scheiße - Bonner, S: Heilige Scheiße: Wären wir ohne Religion wirklich besser dran?
die geöffnete Kuppel der Moschee in den Himmel aufgefahren sei. Die Pilgergruppe brach daraufhin in schallendes Gelächter aus.
»Emotional war das der Moment, in dem ich mich innerlich vom Mythos Christentum löste«, so Steffen heute.
Bei seiner Heimkehr begann er religionskritische Schriften zu lesen, die auf dem Index der römisch-katholischen Kirche standen und die er zuvor nicht einmal mit der Kneifzange angefasst hätte. Sie brachten ihn zur Überzeugung, dass das ganze Lehrgebäude der christlichen Religion auf Wüstensand gebaut war und jeder begreifbaren Grundlage entbehrte. Steffen trat aus der Kirche aus. Das Thema Kirche war damit für ihn erledigt. Erst Jahre später, als er ein Buch des Kirchenkritikers Karlheinz Deschner gelesen habe, sei in ihm eine Wut entstanden über eine Seite des Christentums, von der er vorher nichts gewusst hatte: die vielen Verbrechen und das unendliche Leid, das glühende Verfechter des Christentums in unsere Welt gebracht haben.
»Auf einmal war mir das nicht mehr egal – ich musste etwas tun«, erklärt Steffen seinen Entschluss, mit dem Philosophen Michael Schmidt-Salomon die Giordano Bruno Stiftung zu gründen, die sich für eine Leitkultur des Humanismus und der Aufklärung engagiert und für das »friedliche und gleichberechtigte Zusammenleben der Menschen im Diesseits« eintritt. Ihr Ziel: den Nicht-Gläubigen in der Öffentlichkeit eine Stimme zu geben. Großen Teilen der Generation Gottlos geht es genauso wie Herbert Steffen: Wir fragen uns, wozu wir Religion und eine Institution, die sie in Form gießt, überhaupt noch brauchen. Denn der Glaube – und damit die Basis, der Kirche und Religion ihre Existenz verdanken – ist heutzutage eine immer schwierigere Sache. Schulbildung und Wissenschaft knabbern an seiner Substanz, und vielen fehlt inzwischen das religiöse Grundwissen darüber, was sie eigentlich im Detail alles glauben sollen. Unsere Kultur ist zwar vom Christentum geprägt, da es seit langer Zeit in unseren Breitengraden in Betrieb ist – echte Ahnung von seinen Inhalten und Glaubensgrundsätzen haben aber nur noch die wenigsten Deutschen.
Außerdem gibt es ja interessantere Dinge, mit denen man seine Zeit verbringen kann. Für diejenigen, die sich ihr Leben nicht durch Gott erklären, kann das, was viele Gläubige auf einen allmächtigen Schöpfer zurückführen – der Nachwuchs auf dem Arm, ein blühender Garten oder ein schöner Wagen in der Garage – an sich als sinnliches, begreifbares Glück schon mehr wert sein als das Versprechen eines eventuellen Nachlebens im Paradies. Unsere aufgeklärte Halbbildung, eine relaxte Melange aus Naturwissenschaften, alltagstauglicher Philosophie, Nachrichtenmeldungen und Populärkultur, wird ständig mit den neusten Erkenntnissen upgedated und orientiert sich eher an einer Fülle von Fakten statt an spirituellen Höhenflügen. Eine Religion, die ihre Daseinsberechtigung auf einem zweitausend Jahre alten Buch gründet, das voller Widersprüche ist und von einem Autorenpool teils ungeklärter Herkunft geschrieben wurde, hat es bei einer solchen Zielgruppe doppelt schwer. Zumal die Zahl der Skeptiker wächst und unter anderem mit erstaunlichen Umfrage-Ergebnissen aufwartet, wie dem, dass Atheisten mehr Spaß am Sex haben, weil sie ihr Begehren unbelasteter ausleben können.
So ist das Christentum auf dem Grabbeltisch der Religionen gelandet. Was für viele Menschen bleibt, ist immer noch die Frage nach dem Halt und Sinn im Leben. Bei dem Gedanken, dass wir vielleicht nur durch Zufall hier sind, haben wohl viele von uns schon einmal leichtes Unbehagen verspürt. Und auch die Vorstellung, dass gar kein tieferer Sinn hinter der Welt und unserem Dasein steckt und wir irgendwann wieder in dem Nichts verschwinden, aus dem wir gekommen sind, ist für viele ähnlich beruhigend wie die Nebelbank mit Zombies in Carpenters Horrorklassiker The Fog . Sind wir vielleicht doch nicht wichtiger als eine Amöbe oder ein Wellensittich?
Der Glaube an eine höhere Macht ist für viele angesichts dieser Unwägbarkeiten noch immer unverzichtbar – als suchten wir nach einem unsichtbaren Freund, der uns über Krisen und Zweifel hinweghilft. »Im Flugzeug gibt es während starker Turbulenzen keine Atheisten«, sagte schon Robert Lembke. Empirisch ist das nicht nachzuweisen, aber Lembkes Worte drücken aus, dass der Gedanke an einen Gott, der alle Verantwortung übernimmt und das Schicksal beeinflusst, damit uns nichts
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