Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
so weiter. Aber wir können den Leuten ja nicht jeden Unsinn durchgehen lassen, nur weil er altehrwürdig ist. Nächste Woche muss sie nach Italien reisen, die Klinikleitung hat ihre Entlassungspapiere bereits fertiggemacht und die Flüge und Hotels gebucht, am Montag sitzt unsere arme Frau Schneider in Florenz, mag sie jammern wie sie will. Bis dahin aber wird sie uns noch eine harte Zeit geben.«
»Gut, danke für die Warnung.«
»Ist doch das Mindeste – noch mal vielen Dank!«
»Ich bitte Sie, Dr. Holm!«
»Nein, ich bitte Sie , mein lieber Dr. von Stern!«
»Nein, aber wirklich, ich bitte Sie , Dr. Holm.«
Wir lachen übertrieben laut wie immer, wenn wir dieses blödsinnige Spiel spielen, das keiner von uns beiden nach all den Jahren mehr lustig findet, auf das wir aber aus hygienischen Gründen nicht verzichten wollen. Denn nach dem Lachen können wir jedes Mal tief durchatmen, etwas, was man allein meist nicht mehr schafft, mit offenem, ernstem Gesicht im Spiegelbild des anderen, bis sich die Rippenbögen weiten, und dann verabschieden wir uns mit einem kurz gelächelten Nicken und entfernen uns jeder in seine Destination.
3.
Evelyn, mein Wunschsohn, steht bereits an der Tür des Sprechsaals und lächelt mir verträumt entgegen. Vielleicht sieht er mich aber auch gar nicht, und der kätzchenartige Ausdruck, mit dem sich seine dunkelblauen Augen im Zeitlupenblinzeln zu schrägen Schlitzen schließen, um sich dann umso runder wieder zu öffnen, verdankt sich nur der kontemplativen Intensität, mit der er an seiner Opium-Rhabarber-Flasche nuckelt. Er ist noch immer im Abendanzug, hat nur den Vatermörder, der ihm so besonders gut steht, abgelegt, und sein freier Hals sieht über dem kragenlosen, leicht vergilbten Hemd, das ich beim Näherkommen als sein Nachthemd erkenne, noch weißer aus als sonst. Kopfschüttelnd nehme ich ihm die Flasche aus dem Mund:
»Mein lieber Evelyn, Sie sollten längst im Bett sein.«
»Ja, Papa, ich weiß, aber ich kann nicht schlafen.«
»Sie schlafen doch schon halb im Stehen, schlafen ja schon beim Opiumnuckeln fast ein.«
»Ja, Papa, aber sobald ich mich ins Bett lege, bin ich wieder hellwach. Ich wollte doch noch ein paar Dinge mit dir besprechen. Lässt mir keine Ruhe alles und …«
»Ich werde gar nicht mit Ihnen sprechen, solange Sie mich mit Papa anreden.«
»Bitte, lieber Vater …«
»Keine Diskussion, mein Junge! Solange Sie sich einbilden, mein Sohn zu sein, kann ich Ihnen nicht helfen, und das wissen Sie auch, wie oft soll ich es noch sagen! Sie verlängern Ihr Leiden nur sinnlos. Und mag Ihnen dieses Leiden auch lieb geworden sein und seine unerlaubte Verlängerung eine gewisse Lust bereiten, ich darf es dennoch nicht unterstützen.«
»Ja, ich weiß, Herr Doktor. Kann ich meine Flasche bitte wiederhaben?«
»Oh ja, natürlich – hier!«
Patient trinkt, wie alle Patienten, in trauriger Gier seinen Saft in sich hinein und sieht Referenten dabei ähnlich vorwurfsvoll an wie der Professor heute Morgen. Neben rituellem und für Referenten gänzlich harmlosem Vorwurf ist da aber jetzt zugleich die gerechte Indifferenz in Evelyns Augen, die allen Patienten dann und wann würdevoll den Blick weitet, als wäre ihnen alles nicht nur längst gleichgültig, sondern tatsächlich gleich gültig geworden. Dieser geweitete Blick, der die ärgste Prüfung des Referenten darstellt, weil die Patienten mit diesem Blick durch ihn hindurchsehen, als lohne es nicht, bei seinem Innern haltzumachen, ist nicht etwa der entrückenden Wirkung des Opiums geschuldet – denn das Opium berauscht hier niemanden mehr –, sondern der hingebungsvoll stumpfsinnigen Selbstentblößung dauernden Flaschennuckelns, das die Patienten nach einer Eingewöhnungsphase regelmäßig an einen Ort jenseits der Scham versetzt. Aber freilich geschieht dies, wenn überhaupt und nicht lediglich im Auge des Referenten, nur für Momente, die meiste Zeit über sind Patienten entweder beschämt oder schamlos oder beides zugleich.
Evelyn fängt langsam an, mich zu enervieren, mit seinen Augen kappt er die Verbindung zwischen meinen Nerven und meinem Mediator, der da zwischen meinen Rippen sitzt, sodass es nun in aller Seelenruhe in mir denken kann: Unter dem Blick Deiner Augen bin ich mir zur Frage geworden, und das ist mein Elend . Aber da gähnt Evelyn mit weitaufgerissenem Mund, die Uhr schlägt eins, und der Spuk ist wieder einmal vorbei.
»So, Schluss jetzt, ab ins Bett mit Ihnen, Evelyn.«
»Ja
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