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Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Titel: Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Meier
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Patienten, Falsches wiederholt. Aber einmal abgesehen von diesem oder eher gerade aufgrund dieses Fehlerrisikos bietet das Stimmensprechen eine hervorragende Meditationspraxis. Und wenn man den Saaldienst mit der Arbeit im Belohnungszentrum vergleicht, ist er geradezu ein Geschenk und eine Auszeichnung, ja ein Auszeichnungsgeschenk für den Arzt, fast wie ein ganz alltäglich und beiläufig verliehener schwedischer Polarstern. Der Stimmendienst ist ein weißes Kreuz am schwarzen Band, das an meiner Seelenbrust baumelt. Aber andererseits nehmen wir Ärzte ungern Geschenke und Auszeichnungen an, weder von Patienten noch von der Klinikleitung, und ich nehme an, dass wir uns deshalb alle auf die eine oder andere Weise immer wieder vor dem Stimmensaal drücken.
    Sobald ich jedoch auf der hölzernen Drehscheibe in der Mitte des Saals stehe, die sich so langsam dreht, dass ich es selbst kaum merke, sind alle Zaudereien vergessen, und ich freue mich wie jedes Mal auf diese Arbeit,lasse mich aufdemroten Samtkissen sogleichin Padmasana nieder und nicht nur in den einfachen Schneidersitz, denn meine Knöchel sind von tausenden und abertausenden Stunden im Lotussitz biegsam wie die eines Säuglings. Dann lasse ich mein Prana ruhig strömen, beginne mich einzusummen, höre dabei auf die ersten Stimmen, die nun wieder gleichmäßig aus den vier Fluren zu mir hinübergeweht kommen, und sobald mein Prana seinen idealen Rhythmus erlangt hat und mein ganzer Oberkörper bis ins Geschlechtsteil hinunter leicht brummend vibriert, lasse ich die erste Stimme mit dem Einatmen in meinen Brustkorb hinein und mit dem Ausatmen wieder aus mir heraus. Die Stimmen zu imitieren erfordert ein gewisses schauspielerisches Talent, aber auch kein übermäßiges, denn gerade die leichte Abweichung des Echos vom Original gibt dem Patienten erst die Gewissheit, dass die zu ihm zurückkehrende Stimme seine eigene ist. Von dieser heimkehrenden Stimme wiederholen fortgeschrittene Patienten dann wieder und wieder die letzten beiden Worte, denn es ist therapeutisch unerlässlich, dass Patient nicht nur das letzte, sondern die letzten beiden Worte behält. Wenn Patient dann schließlich in seiner Autoecholalie versinkt, habe ich mich schon zur nächsten Stimme weitergedreht. Auf diese Weise wiederhole ich Stimme um Stimme, vier Stunden lang, aber da die Patienten alle auf einmal sprechen, beziehungsweise schreien, flüstern, wimmern, schimpfen, dozieren, lamentieren, witzeln, betteln, fluchen und so weiter, je nach ihrem Temperament, kann ich natürlich nicht jede Stimme wiederholen, wobei es keineswegs die leisen sind, die man am ehesten überhört. Wer seine Stimme zurückbekommt, ist dabei keine Frage der Willkür, sondern wie fast alles hier lediglich eine des Zufalls. Und da wir Ärzte uns auf unserer Drehscheibe allen Fluren gleichmäßig zuwenden, herrscht immerhin ein statistischer Ausgleich zwischen den Himmelsrichtungen.
    Um Punkt fünf Uhr morgens breche ich das Spiel ab, verbeuge mich, noch immer im Lotussitz, mit vor dem Brustbein zu Namaste gefalteten Händen eine Kreisumdrehung lang, die Patienten murmeln mein Shanti nach und die Pfleger eilen herbei, um die Betten zurück in die Schlafräume zu schieben. Während die Formation sich auflöst, richte ich mich über eine tiefe Vorbeuge langsam auf, bringe meinen Oberkörper über meinen steifen und schmerzenden Beinen wieder ins Lot und bleibe noch eine Weile in der Ujjayi -Atmung, bis das asthmatische Rasseln verstummt, und dann hat alles für heute wieder einmal ein Ende.
    Jetzt endlich schlafe ich, wie immer traumlos und tief wach, den Alphawellenschlaf des lang erfahrenen Arztes, wie klares Wasser durchschreite ich mich, zwei Stunden ohne die geringste Trübung, als hätte es mein früheres Leben nie gegeben, und so kann ich, wenn ich die Augen aufschlage, auf den immergleichen neuen Tag wie auf eine neue Schrift hoffen.

4.
    Halb acht Morgenvisite beim Professor. Patient voller Zeremonien. Ist gerade bei der dritten seiner heiligen Waschungen angelangt, schaufelt sich prustend kaltes Wasser über linke Schulter. Da er sich von Kopf bis Fuß an dem kleinen Waschbecken wäscht, weil er behauptet, das Wasser aus der danebenstehenden Dusche sei nicht nass, ist sein Badezimmer wie immer überschwemmt. Die notorischen Wasserrituale der Patienten, bei deren allmorgendlicher Abhaltung sie sich in ängstlich schielender Missgunst gegenseitig durch die Glaswände ihrer Waschräume beobachten und einander

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