Heimliche Sehnsucht: Mittsommergeheimnis (German Edition)
betrachtete sie nun den Vorgarten ihrer Mutter, der in der rauen Natur, von der er umgeben war, wie ein kleines Paradies wirkte. Hier gediehen bunte Frühlingsblumen in allen Farben des Regenbogens. Leuchtend gelbe Narzissen wetteiferten mit violettem Rittersporn und purpurnem Eisenhut, und auch die Apfelbäume standen in voller Blüte.
Im Schatten einer knorrigen Eiche stand eine Bank, die Linneas Vater einst aus den Überresten eines vom Blitz getroffenen Baumes gezimmert hatte. Wie oft hatte er an lauen Sommerabenden so dort gesessen: Seine alte Meerschaumpfeife im Mundwinkel, in der einen Hand ein Schnitzmesser, in der anderen einen Scheit Holz, aus dem er in stundenlanger Arbeit eine kleine Tierfigur, ein Schiff oder ein Flugzeug zauberte.
Schließlich blieb ihr Blick erneut an dem Haus hängen, in dem sie so viele glückliche Jahre verbracht hatte und vor dem sie jetzt wieder stand.
Sie seufzte versonnen. Nie würde sie die ersten Jahre ihrer Kindheit vergessen. Wie unbeschwert damals noch alles gewesen war! In hübschen Kleidern und mit Zöpfen im Haar war sie über die Wiesen gelaufen, hatte Blumen gepflückt und bunte Kränze daraus gemacht. Das Herumtoben mit ihren Freundinnen Finja und Hanna gehörte ebenso zu ihrem Tagesprogramm wie das Spielen mit ihrem geliebten Hund Kalle, und auf den alljährlichen Dorffesten hatte sie sich stets mit so vielen Leckereien vollgestopft, dass ihr hinterher immer ganz schlecht gewesen war.
All das würde sie auf ewig mit diesem Haus in Verbindung bringen. Gleichzeitig war es jedoch auch das Haus, das sie Jahre später im Zorn verlassen hatte.
Sie trat ein paar Schritte näher und sah es sich genauer an. Viel hatte sich nicht verändert. Die falunrot getünchte Fassade und die weißen Fensterläden konnten einen neuen Anstrich vertragen, und ein paar Dachschindeln waren lose, doch davon abgesehen schien es sich in einem recht guten Zustand zu befinden. Vermutlich hatten sich nach Ludvigs Tod ein paar Männer aus dem Ort der Aufgabe angenommen, es vor dem langsamen Verfall zu bewahren. Nachbarschaftshilfe war in Dvägersdal offenbar noch immer eine Selbstverständlichkeit, ganz anders als in der Stadt, wo jeder sich selbst am nächsten stand.
Sie schaute sich weiter um und entdeckte unter dem Dachfirst das kleine Vogelhäuschen, das sie vor so vielen Jahren zusammen mit ihrem Vater gebaut und angebracht hatte.
Überwältigt von den Emotionen, die plötzlich auf sie einstürzten, hielt Linnea den Atem an. Das alles lag so lang zurück, dass es ihr fast wie ein Traum vorkam. Wie aus weiter Ferne schienen plötzlich vertraute Geräusche an ihr Ohr zu dringen, und Bilder aus der Gegenwart vermischten sich mit denen aus der Vergangenheit: Sie hörte fröhliches Kinderlachen, die Stimmen ihrer Freundinnen, die schöne Lieder sangen, während sie sich Hand in Hand im Kreis drehten. Sie sah ihre Mutter, die mit einem Blech Ä
ppelpej
, dessen Duft Linnea selbst jetzt noch riechen konnte, aus dem Haus trat, und nicht zuletzt erkannte sie auch ihren Vater, der Pfeife rauchend auf der alten Bank unter der Eiche saß, das Schnitzmesser in der Hand.
Pappa
… Linnea spürte, wie ihre Augen feucht wurden, als sie an ihn dachte. Nur so wenige Jahre hatte sie mit ihm verbringen dürfen. Wenn er an jenem Tag doch nur das Haus nicht verlassen hätte … Wahrscheinlich wäre dann alles anders gekommen, und …
Der Klingelton ihres Handy, das im Wagen auf dem Beifahrersitz lag, riss sie aus ihren Gedanken. Sie sammelte sich einen Moment, dann ging sie die paar Schritte zurück und griff durchs offene Fenster.
Sie nahm das Gespräch an, ohne zuvor aufs Display zu schauen.
“Da bist du ja, Darling”, sagte Miles. “Ich hab mir schon Sorgen um dich gemacht. Du wolltest doch anrufen, wenn du Dvägersdal erreicht hast. Bist du noch unterwegs?”
Sie atmete tief durch. Miles Banning war der Sohn ihres Verlegers – und der Mann, den sie bald heiraten würde. “Ich bin gerade eben angekommen”, erklärte sie. “Der Weg hierher war weiter, als ich es in Erinnerung hatte.”
“Tja, sechs Jahre sind eine lange Zeit, da vergisst man schon mal so einiges.” Er lachte. “Was denkst du, wann wirst du die nötigen Genehmigungen für unsere Hochzeit in Schweden zusammenhaben?”
“Das kann ich im Moment noch nicht so genau sagen”, erwiderte sie ausweichend. Miles glaubte, dass sie nach Schweden gefahren war, um alles für ihre Hochzeit, die in einigen Monaten auf besonderen Wunsch
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