Heisse Liebe in eisiger Nacht
dass die Falle zuschnappte.
Genevieve stellte die Einkaufstasche auf den Küchentisch. Trotz des wärmenden Parkas fror sie und rieb sich die Arme. Doch sie fror nicht nur, sie verspürte auch eine seltsame Unruhe. Sosehr sie es auch herunterzuspielen versuchte, sie hatte vorhin das unangenehme Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Es war unheimlich gewesen, fast wie eine körperliche Berührung. Genevieve war erschaudert und hatte eine Gänsehaut bekommen.
Am liebsten wäre sie davongelaufen.
Das kommt davon, wenn man bis spät in die Nacht aufbleibt und Stephen King liest, sagte sie sich. Mach nur so weiter, und bald wirst du noch denken, dass die Bäume sich bewegen oder ein mutiertes Eichhörnchen dich holen kommt.
Sie musste lächeln. Na schön, sie war ein wenig nervös, aber das war ja nicht überraschend, vor allem da ihre Fahrt in die Stadt sie mit so vielen widersprüchlichen Gefühlen erfüllt hatte.
Es war typisch für ihre gegenwärtige Situation, dass sie einerseits furchtbare Angst gehabt hatte, man könnte sie erkennen, sich andererseits aber zutiefst gewünscht hatte, ein vertrautes Gesicht zu sehen. Und das war nicht nur unlogisch und widersprüchlich, sondern auch noch höchst unwahrscheinlich, da sie das letzte Mal, als sie hier war, gerade fünfzehn gewesen war, also ungefähr halb so alt wie heute.
Und doch ging sie ein Risiko ein, indem sie hierherkam. „Wie man ohne Spuren untertaucht“ – ihre Bibel in den letzten Monaten – warnte eindringlich davor, bekannte oder vertraute Orte aufzusuchen.
Aber Genevieve ging allmählich das Geld aus, und sie brauchte eine kurze Verschnaufpause von vielleicht eineroder zwei Wochen, um sich auszuruhen und neue Pläne zu schmieden. Und nach so langer Zeit würde doch sicher jeder, der sie noch suchen mochte, diesen Ort hier schon längst abgeschrieben haben.
Jedenfalls hoffte sie das von ganzem Herzen. Sie sah sich in der Hütte, die eigentlich ein kleines komfortables Ferienhaus war, um. Im hinteren Teil befand sich die Küche, im vorderen das Bad und die Schlafecke mit dem breiten Bett sowie eine Sitzecke. Eine schmale Treppe, die zu einem kleinen Dachboden hinaufführte, trennte den vorderen und den hinteren Bereich.
Die Vorderseite des Hauses bestand hauptsächlich aus Fenstern, in der Mitte unterteilt von einem steinernen Heizkamin mit feuerfester Glastür, der vom Boden bis zur Decke reichte. Das große marineblaue Sofa, die drei Beistelltische und die zwei weichen Schaukelstühle waren neue Stücke und von der Hausverwaltungsagentur ausgewählt worden, die Genevieve beauftragt hatte, als sie und ihr Bruder die Hütte geerbt hatten. Doch auch die neuen Möbel wirkten schlicht und elegant wie die alten Stücke ihres Urgroßonkels, und sie waren so angeordnet, dass sie den Blick auf die wundervollen Berge freigaben, die man durch die Fenster sehen konnte.
Wenn Genevieve die Augen schloss, konnte sie sich fast vorstellen, sie wäre wieder fünfzehn und ihr Urgroßonkel Ben würde jeden Moment zur Tür hereingepoltert kommen, den ihn anbetenden zwölfjährigen Seth dicht auf den Fersen. Die beiden würden ihr aus den Händen reißen, was sie gerade las – ihr kleiner Bruder beschwerte sich darüber, dass Genevieve ständig las – und sie auf die Veranda hinauszerren, um ihr den Sonnenuntergang zu zeigen oder den Flug eines Adlers hoch oben über ihren Köpfen zu verfolgen.
Doch Onkel Ben war leider schon vor mehr als zehn Jahren gestorben. Er war der letzte der fünf ältlichen Verwandten, die ihr Bestes gegeben hatten, um ihrem Großneffen und ihrer Großnichte eine einigermaßen normale Kindheit zu ermöglichen. Und Seth …
Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen bei dem Gedanken an das letzte Mal, als sie ihren Bruder gesehen hatte. Er hatte einen orangefarbenen Overall getragen, seine Hände waren in Ketten gelegt. Verschlossen und unnachgiebig hatte er sie durch das Drahtgeflecht angesehen, das Besucher und Insassen des Bezirksgefängnisses voneinander trennte.
„Nein. Auf keinen Fall, Genevieve“, hatte er gesagt. „Wenn du vor Gericht auftauchst und die Aussage verweigerst, werden sie dich auch noch ins Gefängnis werfen.“
„Aber …“
„Nein. Es ist schon schlimm genug, dass du womöglich dein Haus verlieren wirst. Und wofür? Um einen Anwalt zu bezahlen, der mich für schuldig hält? Aber ich schwöre bei Gott, ich gestehe eher, bevor ich zulasse, dass du deine Freiheit opferst.“
„Seth, sei kein Idiot
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