Helle Barden
beschrieben ihn als jemanden, vor dem man sich besser in acht nahm. Darüber hinaus hielten sie es für angemessen, einen sicheren Abstand zu wahren – in Edwards Nähe fühlten sich selbst Assassinen unbehaglich.
Auf dem Friedhof füllte ein einsamer Totengräber das Loch, in dem der verstorbene d’Eath ruhte.
Nach einer Weile wurde er sich seltsamer Gedanken in seinem Kopf bewußt. Sie lauteten etwa so:
Hast du vielleicht einen Knochen? Oh, entschuldige, wie taktlos von mir. Du hast Schinkenbrote in deinem Dingsbums, in deinem Mampfkasten. Eins davon könntest du eigentlich dem netten kleinen Hund da drüben geben.
Der Mann stützte sich auf die Schaufel und drehte den Kopf.
Die graue Promenadenmischung bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick.
»Wuff?« bellte sie.
Edward d’Eath brauchte fünf Monate, um das zu finden, wonach er suchte. Das Problem war, daß er nicht genau wußte, wonach er Ausschau halten sollte. Nur eins war ihm klar: Er würde das Gesuchte sofort erkennen, wenn er es sah. Edward glaubte fest an das Schicksal. Das ist bei Leuten wie ihm oft der Fall.
Die Gildenbibliothek zählt zu den größten in der ganzen Stadt. Was bestimmte Themen anging, gab es keine größere – sie betrafen vor allem die bedauerliche Kürze des menschlichen Lebens sowie diverse Mittel, es noch kürzer zu gestalten.
In jener Bibliothek verbrachte Edward viel Zeit, meistens ganz oben auf einer Leiter, umgeben von Staub.
Er las alle bekannten Werke über Waffen. Auch in diesem Fall wußte er nicht genau, wonach er suchte. Er fand es schließlich in Form einer Anmerkung am Rand einer ansonsten ebenso langweiligen wie ungenauen Abhandlung über die Ballistik bei Armbrüsten. Sorgfältig schrieb er die Worte ab.
Edward saß auch lange Zeit über Geschichtsbüchern. Die Assassinengilde bestand zum größten Teil aus vornehmen Herren, und diese Leute betrachten die Geschichte in erster Linie als eine Art Effektenbuch. Die Gildenbibliothek enthielt viele historische Bücher, hinzu kam eine Galerie mit Bildern von Königen und Königinnen 2 . Edward d’Eath kannte ihre aristokratischen Gesichter bald besser als sein eigenes – er verbrachte dort seine Mittagspausen.
Später hieß es, daß Edward zu diesem Zeitpunkt unter schlechten Einfluß geriet. Doch das Geheimnis seiner Entwicklung war, daß er unter gar keinen externen Einfluß geriet – abgesehen von den vielen toten Königen. Er beeinflußte sich selbst.
An dieser Stelle kommt es häufig zu Mißverständnissen. Individuen haben nicht etwa automatisch eine Mitgliedskarte für die Menschheit – das trifft nur in biologischer Hinsicht zu. Sie müssen von der Brownschen Bewegung der Gesellschaft hin und her gestoßen werden: Dieses Prinzip erinnert die einzelnen Menschen ständig daran, daß sie… nun, Menschen sind. In Edwards Fall kam seine Tendenz hinzu, sich spiralförmig nach innen zu bewegen – ein typisches Symptom.
Er ging nicht planvoll vor. Er reagierte nur wie viele andere Leute, die sich angegriffen fühlen: Er wich in eine Stellung zurück, die sich besser verteidigen ließ. In seinem Fall kam das einer Reise in die Vergangenheit gleich.
Und dann geschah etwas, das auf Edward so wirkte, als würde jemand, der sich mit alten Reptilien befaßt, in seinem Goldfischteich einen Plesiosaurier entdecken.
An einem heißen Nachmittag, nachdem er mehrere Stunden in der Gesellschaft verblaßten Ruhms verbracht hatte, trat er nach draußen in den hellen Sonnenschein. Und plötzlich sah er das Gesicht der Vergangenheit: Es schlenderte einfach so vorbei und nickte den anderen Leuten freundlich zu.
Edward konnte sich nicht beherrschen. »He, du!« entfuhr es ihm. »Wer bist du?«
»Korporal Karotte«, erwiderte die Vergangenheit. »Von der Nachtwache. Du bist Herr d’Eath, nicht wahr? Kann ich dir irgendwie helfen?«
»Was? Nein! Nein. G-geh nur weiter deinen Aufgaben nach.«
Die Vergangenheit nickte, lächelte und schritt in die Zukunft.
Karotte wandte den Blick von der Wand ab.
»Ich habe drei Dollar für einen Ikonographkasten ausgegeben das ist ein Ding mit ‘nem kleinen Dähmon drin. Er malt Bilder von Dingen und solche Apparate sind hier jetzt der große Schrei. Anbeiliegend findet ihr Bilder von meinigem Zimmer und den Froinden in der Wache, Nobby kann man leicht an der humorfollen Grimasse erkennen. Er ist wie ein roher Diamant, aber in seinem Innern ganz tief drin hat er eine gute Seele.«
Einmal mehr zögerte
Weitere Kostenlose Bücher