Die Spur des Verraeters
Prolog
W
ie ein blasser Mond stieg die weiße Kugel der Sonne hinter den Wolkenbergen auf, die sich über den Hügeln im Osten Nagasakis türmten, der Hafenstadt auf Kyûshû, jener westlichsten der vier großen Inseln Japans. An den bewaldeten Hängen hatte sich Nebel festgesetzt und verhüllte die Stadt und den Hafen, von dem Schiffe in alle Welt fuhren. Glocken erklangen von den Tempeln an den Hügelflanken; der Wind trug ihr Läuten über den herrschaftlichen Palast des Statthalters und das Meer der strohgedeckten Dächer der Läden und Wohnhäuser und ausländischen Handelsniederlassungen hinweg. Eine Sommerbrise ließ die Segel der im Hafen liegenden Schiffe wogen: japanische Fischerboote, chinesische Dschunken und ungezählte andere Wasserfahrzeuge aus fernen, exotischen Ländern wie Arabien, Korea und Indonesien. Ein Patrouillenboot der Hafenpolizei glitt durch die Meerenge, die von den hohen, bewaldeten Felsen vor der Hafeneinfahrt gebildet wurde, und fuhr an den Wachtürmen vorüber und hinaus auf die ruhige See. Am westlichen Horizont erschienen die Silhouetten ferner Schiffe, als die Morgendämmerung langsam den Vorhang der Nacht zur Seite zog.
Auf einer steilen Straße, die aus der Stadt hinausführte, kündeten Hufgetrappel, Schritte und ein gequältes Stöhnen vom Herannahen eines düsteren Todeszuges, den die höchsten Beamten Nagasakis anführten – berittene Samurai in schwarzen zeremoniellen Umhängen und Hüten –, gefolgt von vierhundert Würdenträgern niederer Ränge; dann kamen Kaufleute, gemeine Bürger und Diener. Am Schluss marschierte ein großer Trupp Soldaten, mit Schwertern und Speeren bewaffnet, die einen zu Tode verängstigten Gefangenen mit sich zerrten.
»Nein«, rief der Samurai voller Qual, »das dürft ihr nicht tun!« Sein Jammern, Klagen und Stöhnen wurde lauter, als der Todesmarsch sich höher hinauf in die Hügel bewegte. Man hatte dem Gefangenen sein Schwert weggenommen und ihn bis auf den Lendenschurz entkleidet; seine Füße waren mit schweren Ketten gefesselt, und die Arme waren ihm auf dem Rücken zusammengebunden. Die Soldaten stießen ihn grob mit ihren Speeren an und trieben ihn den steilen Pfad hinauf.
Einer der Zuschauer kämpfte gegen Furcht und Übelkeit. Es war ihm zuwider, bei Hinrichtungen zuzuschauen; diesmal aber musste er von Amts wegen dabei sein, so wie alle anderen, die mit den ausländischen Handelsstationen in Nagasaki zu tun hatten. Der bakufu – die Militärdiktatur des Shogun – wollte seinen Beamten drastisch vor Augen führen, was mit Verbrechern geschah, die sich des Verrats schuldig machten; zugleich war es eine Warnung, persönliche Beziehungen mit den Ausländern einzugehen, und mochten sie noch so harmlos sein, oder Kritik am Shogun und dem bakufu zu üben. Nagasaki war einer der wenigen Orte in Japan, an dem Ausländer sich aufhalten durften; deshalb bestand die Gefahr, dass ein ehrgeiziger Mann in dieser Stadt mächtige Verbündete aus der Fremde um sich scharte und einen Aufstand gegen das Herrscherhaus der Tokugawa entfachte. Um dies zu verhindern, setzte der bakufu seine Gesetze in Nagasaki rigoroser durch als irgendwo sonst im Land und unternahm alle Anstrengungen, Verräter zu entlarven und zu bestrafen. Selbst ein noch so geringfügiger Verstoß hatte unweigerlich die Hinrichtung zur Folge.
»Warum tut ihr mir das an?«, rief der Gefangene verzweifelt. »Habt Gnade, ich flehe euch an!«
Niemand antwortete. Erbarmungslos bewegte der Zug sich weiter, bis die Mitglieder dieses Todesmarsches sich auf einer Hochfläche mit Blick auf die Stadt und den Hafen versammelten. Niemand sagte ein Wort, doch der ängstliche Beobachter konnte die Gefühle der anderen spüren, die wie eine giftige, heimtückische Wolke in der feuchtschwülen Luft schwebten: Angst, Erregung, Abscheu. Angewidert und voller Entsetzen sah der Beobachter, wie die Soldaten den Gefangenen zur Mitte der Hochfläche zerrten.
Dort warteten vier finstere, muskelbepackte Männer mit kurz geschorenem Haar und in zerlumpten Kimonos. Einer stand neben einem kürzlich errichteten Gerüst, das aus zwei hölzernen Stützpfeilern bestand, die mit einem Querbalken verbunden waren. Der Mann hielt einen Hammer in der Hand. Zwei andere packten den Gefangenen bei den Armen und zwangen ihn neben dem vierten Mann, der ein Schwert in den Händen hielt, auf die Knie; die scharfe Klinge der Waffe schimmerte im blutroten Licht der Morgensonne. Die Männer waren eta , gesellschaftlich
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