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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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ließ sie nicht entkommen. Sie ruckte einige Male, dann gaben ihre Finger nach und schließlich lag sie ganz still. Ich zog ihr den Sack, der aus festem Ölzeug gefertigt war, vorsichtig vom Kopf, und band ihn sorgsam zu. Was immer Rico von mir wollte, ich hielt es in diesem Sack gefangen.
    Die Augen meiner Schwester standen offen, aber sie blieben ausdruckslos und dunkel, ohne den geringsten Schimmer. Ich legte ihr ein Ohr auf den Mund, glättete dann ihr Haar und deckte sie zu. Aber ihr rechtes Bein ragte unter der Bettdecke hervor, und ihr Fuß schien ganz kalt und bläulich wie verdorbene Milch. Ich nahm ihre große Zehe zwischen meine Lippen und saugte daran. Danach stopfte ich auch die anderen Zehen in meinen Mund. Ich steckte meinen Kopf unter die Bettdecke und unter Ingrids Nachthemd. Ich legte mich auf den Körper meiner Schwester, so als ob ich sie wärmen könnte, legte meinen Kopf auf ihre Brust und küsste ihren Hals, und nichts war mir genug.
    Als es an der Zeit war, stopfte ich mir den Wäschesack unter die Jacke und eilte aus dem Zimmer. Dann kletterte ich abermals zu meinem Fenster hinaus und in den Garten, voller Angst, dass ich Ingrids Seele verlieren könnte.
    Rico wartete hinter seinem Zelt auf mich. »Du bist zurückgekommen. Ich wusste es«, sagte er.
    »Natürlich«, sagte ich.
    »Du hast sie gefangen«, sagte er, aber es hörte sich wie eine Frage an.
    »Natürlich«, sagte ich und klopfte auf meine Hosentasche, in der ich sein leeres, nutzloses Glasfläschchen trug. »Nun musst du mir alles zeigen.«
    »Ich will es sehen«, sagte er.
    »Später«, sagte ich.
    Er nickte und konnte doch seine Augen nicht von mir abwenden. Dann schüttelte er den Kopf und stieß den Eingang auf.
    Die Wände waren voller Gemälde, die die verschiedenen Höllenkammern zeigten. Eines zeigte Sünder, denen die Kleider vom Leibe gerissen und die in Wannen mit siedendem Öl gestoßen wurden. Auf einem anderen Bild schnitten ganze Horden von Teufeln die nackten Sünder auf und hängten sie an große Haken und rösteten sie über gewaltigen Feuern.
    »Fürchtest du dich jetzt?«, fragte Rico.
    »Nein«, sagte ich. »Zeig mir mehr.«
    Er führte mich zu einem Gestell, auf dem viele Fläschchen standen, die ganz wie das meine aussahen. Die Lichter im Inneren schimmerten blässlich. »Diese bewahre ich solange auf, bis ich sie in die ewigen Flammen werfe«, flüsterte Rico mit rauher Stimme.
    »Was hast du sonst noch?«, fragte ich.
    Rico führte mich zu einem Haufen von geschwärzten und halbverbrannten Knochen – den Überbleibseln von Sündern, deren Fleisch im Höllenfeuer verbrannt war.
    »Was sonst noch?«
    Er ging voran in die hinterste Ecke seines Zeltes. »Hier«, sagte er, »du kannst direkt hinunter in die Hölle blicken.« Er zog das schwarze Tuch, das die Öffnung eines großen Fasses verhüllt hatte, beiseite, und ließ mich hineinsehen. »Es sitzt genau über dem Eingang der Hölle«, sagte Rico. »Der Eingang zur Hölle ist in Hemmersmoor.«
    Nebel und Dampf stiegen aus dem Fass auf, und sobald ich mein Gesicht über den Rand des Fasses geneigt hatte, konnte ich Stimmen von ganz tief unten heraufkommen hören. Die Stimmen jammerten, beklagten ihr Schicksal und schrien in Todesqualen. »Das ist die Hölle«, sagte Rico. »Nun hast du sie gesehen.«
    »Ja«, antwortete ich.
    »Ich habe mein Versprechen gehalten«, sagte er. Dann betätigte er einen Schalter und die Hölle hörte auf zu klagen. Das Fass hörte auf zu dampfen. Die Glasflaschen schimmerten nicht mehr.
    »Und ich meins«, gab ich zur Antwort und griff in die Hosentasche und händigte ihm das alberne Fläschchen aus.
    Er starrte auf das dunkle Glas. »Es ist leer«, sagte er. »Hast du nicht die neun Wörter benutzt, die ich dir gegeben hatte?« Seine Stimme war heiser.
    »Natürlich nicht.« Ich knöpfte meine Jacke auf und reichte ihm den Wäschesack. »Wörter und Glasflaschen sind nicht genug«, sagte ich.
    Seine Hände begannen zu zittern, als er den Sack entgegennahm. »Was ist das?«, fragte er mit heiserer Stimme. Langsam begann er den Sack aufzuknoten.
    *
    Der Himmel war mit Sternen behangen. Nach dem Schwefelgestank in Ricos Zelt war die Nachtluft wohltuend herb und taufeucht. Der Herbst war gerade erst angebrochen, man spürte noch einen Hauch sommerlicher Wärme, und ich ging langsam nach Hause. Aus Fricks Krug drang zorniges Geschrei, es klang wie die Stimmen der gequälten Sünder in Ricos Hölle.
    Ich kletterte den Lindenbaum

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