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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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und Blumenbeete wie sonst unter einer Schneedecke begraben worden. Doch der alte Gutsbesitzer bestand darauf, dass mein Vater lange Tage in den Gärten des Großen Hauses verbrachte, und das Seltsame war, dass es ihn wohl nicht störte. Ganz im Gegenteil. Jeden Morgen schien er ein bisschen früher aufzustehen, und meine Mutter begann, sich über seine gute Laune und seine laute Stimme am Morgen zu beschweren. Wenn mein Vater abends nach Hause kam, war sie in einer so fürchterlichen Stimmung, dass ich das Haus floh und zu Anke lief, um mit ihr Strohsterne zu basteln.
    Was ich nicht wusste, was mir meine Mutter aber bald in einem zischenden Flüsterton erzählte, war, dass Inge Madelung meinem Vater auf dem Gut zur Hand ging. Wie im Jahr zuvor hatte Inge im Herbst bei der Ernte geholfen, doch eines Tages war der Aufseher zu ihr gekommen und hatte sie gefragt, ob sie dem Gärtner zur Hand gehen könnte. Mein Vater benötige extra Hilfe, und er, der Aufseher, könne niemanden sonst entbehren. Inge hatte eingewilligt, anscheinend froh, der prallen Sonne auf den Feldern zu entgehen. Mein Vater hatte den Kopf geschüttelt, als der Aufseher sie zu ihm geführt hatte, und hatte sich nachts bei meiner Mutter beschwert, dass sie nicht wie ein Mann schleppen und heben könne.
    Doch nach der ersten Woche zeigte sich mein Vater mit Inges Arbeit erstaunlicherweise zufrieden, und nach einer weiteren Woche schienen sie den ganzen Tag lang Seite an Seite zu arbeiten, bis mein Vater gegen Abend in seinem alten Lastwagen ins Dorf zurückfuhr.
    Die Miene meiner Mutter war finster, ihre Augen glänzten, und etwas, das wie ein Lächeln aussah, aber soviel gefährlicher schien, spielte um ihren Mund, während sie mir das alles zwei Tage vor unseren Schulferien berichtete. »Das Schlimmste ist«, sagte sie, »dass er nun überhaupt nicht mehr von ihr reden mag. Er hält sie vor mir geheim. Er kann es nicht erwarten, mit diesem Weibsbild allein zu sein. Dein Vater ist außer sich. Er hat uns beide schon lang vergessen.«
    Ich antwortete ihr nicht, kein Wort von mir hätte sie beschwichtigen oder den Plan, den sie sich ausgedacht hatte, ändern können. Sobald die Schulferien anfingen, würde ich wieder mit meinem Vater aufs Gut fahren. »Du musst deine Augen offenhalten und mir alles berichten«, sagte sie.
    »Kann Anke mit uns kommen?«, fragte ich sie schließlich.
    Meine Mutter willigte ein. »Lass dir nur nichts anmerken.«
    Am 21. Dezember, um fünf Uhr morgens, verließen mein Vater und ich das Haus, holten Anke ab, die bereits gewaschen und gekämmt am Zaun stand, und rumpelten in der Dunkelheit auf das Große Haus zu.
    Anke trug einen kleinen Ranzen, den ihre Mutter für sie gepackt hatte, und starrte zum Fenster hinaus. Sie trug ein Kleid, das, ganz im Gegensatz zu meinem, viel zu gut zum Spielen war, und sie sah sehr hübsch aus und roch, als ob ihre Mutter sie am ganzen Körper mit Kölnisch Wasser eingerieben hätte. »Können wir ins Labyrinth gehen?«, fragte sie.
    »So lang ihr euch nicht erwischen lasst«, grummelte mein Vater. Noch im Sommer schien ihn meine Anwesenheit aufgeheitert zu haben, doch an jenem Morgen zeigte er sich launisch. »Macht mir keine Dummheiten, und vor allem seid höflich zum alten von Kamphoff und macht einen Knicks, wenn er kommt.«
    Drei Generationen der Familie lebten auf dem Gut. Der alte Johann von Kamphoff hatte als Offizier in zwei Kriegen gedient. Ihm fehlte ein Arm, und er hinkte, wenn er aus dem Gutshaus zu uns in den Garten kam. Er war es, der meinen Vater einst eingestellt hatte, als dieser ein junger Mann mit einer schwangeren Braut gewesen war, und der alte Mann behandelte ihn mit demselben Wohlwollen, mit dem er einen Lieblingshund behandelt hätte. Seine Beine waren mit Krampfadern und Narben überwachsen, und den linken Hemdsärmel hatte er aufgerollt und mit einer Sicherheitsnadel an der Schulter befestigt.
    An manchen Tagen stand er neben meinem Vater, während dieser Baumwurzeln ausgrub oder Rhododendren pflanzte, und schwafelte gutmütig von Schlachten, in denen er gekämpft hatte. Er erklärte, warum wir die Kriege hätten gewinnen müssen, und welche Fehler und Zufälle zu unserem Untergang geführt hatten. Wir hatten unser Schicksal nicht erfüllt.
    Mein Vater gab ihm recht. Er war wohl ein guter, sanftmütiger Mann, aber wenn seine schlechten Augen ihn nicht vor dem Militärdienst bewahrt hätten, wäre er folgsam für das Vaterland in den Krieg gezogen. Er war arm,

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