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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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die Bauern. Hatte Helga Vierksen vor ihrem Tod das Dorf verflucht? Mussten wir auf diese Weise für unsere Sünden bezahlen? Die Bäume fingen wieder zu knospen an, Gras und Getreide begannen aus dem Boden zu schießen – ein plötzlicher Frost würde uns der Ernte berauben. Mein Vater schüttelte den Kopf und seufzte. Im Winter kam er oft früh nach Hause, die Gärten konnten dann ohne ihn auskommen. Doch das warme Wetter ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.
    Die einzige Frau im Dorf, die ihren schwarzen Mantel trug, war die Witwe Madelung. Sie war das ganze Jahr in Schwarz gekleidet. Es war ihr einziger Mantel, und obwohl er zu warm sein musste, trug sie ihn, wann immer sie vom Gut der von Kamphoffs nach Hemmersmoor gelaufen kam.
    Nach dem letzten Krieg hatten die Behörden in Groß Ostensen darauf bestanden, dass die von Kamphoffs einer Flüchtlingsfamilie Unterkunft gewährten. Und so war Inge Madelung mit ihrem kleinen Sohn Friedrich in einer Kammer einquartiert worden. Sie war eine kleine Frau, mit weißem, gelockten Haar, das, so hieß es, noch am Vorabend ihrer Flucht flachsblond gewesen war. Inge Madelung war noch keine vierzig Jahre alt, und trotz einer gewissen Müdigkeit, die sich in ihren Zügen eingenistet hatte, wurde sie von den Frauen in Hemmersmoor mit Argwohn betrachtet, wann immer sie vom Gut ins Dorf gelaufen kam. Sie hatte keinen Mann, sie hielt sich aufrecht, und sie hatte ihre jugendliche Figur behalten.
    Hermann Madelung, der vor dem Krieg als Kellner gearbeitet hatte, war in Litauen verschollen, erzählte Frau Meier meiner Mutter und den anderen Frauen in der Bäckerei. Sie konnte sich glücklich schätzen, eine Bleibe für sich und ihren Jungen gefunden zu haben. Solange der Tod ihres Mannes nicht bestätigt werden könnte, würde die kleine Frau keine Pension beziehen. Eine schöne Bescherung, seufzte Frau Meier, und die Frauen in der Bäckerei seufzten ein wenig zu herzhaft mit ihr.
    Im Sommer half Inge Madelung mit der Ernte auf dem Gutshof, und im Herbst und Winter wusch und flickte sie Hemden. Sie war eine gute Arbeiterin, fleißig und gewissenhaft und schweigsam. Und sie wusste mit Nadel und Faden umzugehen.
    Friedrich ging in unserem Dorf zur Schule und saß zwei Reihen hinter mir. Er wurde oft wegen seiner gestopften Hemden und Strümpfe gehänselt. Er trug jeden Tag das gleiche Paar Hosen, immer sauber, jeden Monat etwas schäbiger und mit gestopften Knien, bis er schließlich aus ihnen herausgewachsen war.
    Friedrich gab oft mit seinem Vater an, erzählte von dessen kühnen Heldentaten an der Front. Einen Tag flog sein Vater eine Attacke auf Moskau, ein anderes Mal rettete er seine Männer, indem er allein aus dem Schützengraben sprang und auf den Feind losstürmte. Er war ein hoher Offizier, erzählte uns Friedrich, und hatte viele Orden bekommen. Friedrich war der Einzige in unserer Klasse, der keinen Vater hatte, und seine Geschichten wurden von Monat zu Monat fantastischer. Aber Alex und Bernhard schimpften ihn einen Bastard, und oft lief er weinend von der Schule nach Hause, nachdem er sich mit Martin oder den anderen geprügelt hatte. Gerüchte kursierten im Dorf, dass weder Friedrich noch seine Mutter wüssten, wer sein Vater war. Dass sie ein Soldatenliebchen gewesen oder dass etwas noch viel Schlimmeres passiert sei, etwas das keine Frau beim Namen nennen wollte. Die Witwe Madelung könne sich glücklich schätzen, dass ihr Sohn nicht wie ein Mongole oder ein Mohr aussehe.
    Inge Madelung ließ sich jedoch nichts anmerken und stopfte die Hosen ihres Sohnes nach jeder Prügelei. Und wenn sie nach Hemmersmoor kam, hielt sie sich so kerzengerade wie immer. Doch die Feindseligkeit der Frauen konnte ihr nicht entgehen. Sie sorgten sich um ihre Männer, nannten sie hinter ihrem Rücken Krähe und taten es laut genug, dass sie es hörte. Zum Erntedankfest war sie nie erschienen.
    So sehr sie sich wohl eine freundlichere Aufnahme gewünscht hätte, mag sie die Frauen in Hemmersmoor doch genau verstanden haben. Sie muss die Blicke der Männer wie Nadeln auf ihrer Haut gespürt haben, muss die geflüsterten Anzüglichkeiten gehört haben. Sie wurde ohne jeden Respekt behandelt, und mehr als einer der Männer pfiff ihr höhnisch hinterher.
    All das wäre mir vielleicht entgangen – meine Freundin Anke und ich hatten Besseres zu tun, als uns um die Angelegenheiten der Erwachsenen zu kümmern – wäre mein Vater in jenem Winter wie gewöhnlich zu Hause geblieben, wären seine Hecken

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