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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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hinauf und von dort auf meine Fensterbank. Das Haus lag völlig still, meine Eltern waren längst eingeschlafen. Mein Bett fühlte sich klamm und unbehaglich an.
    Sie fanden Ingrid, als das erste Tageslicht die Dunkelheit verdünnte und es Zeit war, sich für die Kirche zurechtzumachen. Meine Eltern versuchten, sie aufzuwecken, und sie vermochten es nicht. Den Rest des Tages wimmelte es von Besuchern, Trauergästen und Verwandten. Ich wurde in einen schwarzen Anzug gesteckt, und mir wurde verboten, aus dem Haus zu gehen und in der folgenden Woche an der Beerdigung teilzunehmen.

LINDE
    Ich kann mich an die Hände meines Vaters nicht ohne Schmutz unter den Nägeln erinnern. Er war ein kleiner, drahtiger Mann mit einem blanken Schädel, den er im Sommer mit einem Taschentuch schützte. Die Ehe meiner Eltern war keine glückliche, und dies lag größtenteils daran, dass mein Vater, als Gärtner auf dem Gut der von Kamphoffs, nur wenig Geld nach Hause brachte. Geld war immer knapp, unser Haus war eine wacklige, eingeschössige Angelegenheit, und in unserem Vorgarten war kaum genug Platz, ein paar Blumen zu pflanzen.
    »Die hätten uns zumindest im Großen Haus einquartieren können«, sagte meine Mutter Therese so oft, dass mein Vater und ich diesen Satz laut mit zu Ende sprechen konnten. Ich verstehe heute, dass dies eine Gelegenheit hätte sein können, bei der mein Vater sich zu seinen Schwächen als Brotverdiener und meine Mutter sich zu ihren nutzlosen Sehnsüchten hätte bekennen können. Sie hätten gemeinsam über sich lachen können. Doch das Gesicht meiner Mutter wurde schnell hart und das bedeutete das Ende jeden Gespräches, jeder Mahlzeit und aller Wärme.
    An meine ersten Fahrten zum Großen Haus kann ich mich nicht erinnern, aber nach meinem vierten Lebensjahr verbrachte ich fast jeden Sommer mit meinem Vater auf dem Gut, und jeden Morgen lief ich an den Hecken und Sträuchern entlang und sog den eigentümlich schweren Geruch der noch geschlossenen Blüten ein. Obwohl es mir nicht ausdrücklich erlaubt war, auf dem Gut und in den Ställen herumzuschlendern, mochten die von Kamphoffs meinen Vater zu sehr, um auch nur ein Wort zu sagen. Sie wussten, dass niemand sonst so schwere Arbeit für so wenig Geld geleistet hätte.
    Als ich sieben Jahre alt wurde, musste ich mir jedoch das Haar flechten und zur Schule gehen und Vater seine Arbeit ohne meine teure Gesellschaft verrichten lassen. Statt ihm zur Hand zu gehen, saß ich neben meiner besten Freundin, Anke Hoffmann, in unserem Klassenzimmer und lernte Rechnen und Schreiben. Ich kam mir mit meinen neuen Büchern und dem großen Ranzen sehr wichtig vor, und statt Eichen zu sammeln oder Blätter zu harken, verbrachte ich die Nachmittage im Hause der Hoffmanns. Anke und ich machten unsere Schularbeiten zusammen am Küchentisch, wo Frau Hoffmann uns helfen konnte, und wir spielten danach in Ankes Zimmer. Ich verbrachte so viel Zeit bei den Hoffmanns, dass mir mein eigenes Zuhause fast fremd vorkam.
    Der Winter nach meiner Einschulung wollte überhaupt kein Winter werden. Im Herbst war auch Martin Schürholz häufig mit uns nach Hause gekommen, aber seit dem Erntedankfest wurden seine Besuche seltener. Wenn er kam, dann nur um uns das Haar zu flechten und uns seinen Kopf in den Schoß zu legen. Oder wir spielten Hochzeit, und er war der Bräutigam und musste uns küssen.
    Die Vierksens waren an einem sonnigen Tag im Oktober begraben worden, und die Sonne wärmte uns noch immer, als wir Ende des Monats in schwarzen Kleidern auf die Beerdigung von Ingrid Bobinski gehen mussten. Dann blieben auch die Novemberstürme aus, und selbst am ersten Advent standen die Fenster der Häuser noch offen, und die Kerzen auf den Kränzen wollten niemanden in eine festliche Stimmung versetzen. Die Jungen im Dorf trafen sich nachts, um in der Droste zu baden.
    An das warme Wetter in jenem Dezember hatten sich die Dorfbewohner schnell gewöhnt, aber als es fast Weihnachten war und noch niemand die eingemotteten Wollmäntel aus den hinteren Ecken der Schränke hervorgekramt hatte, begannen sie, sich Sorgen zu machen. Sie genossen die milden Tage und duldeten sogar die Fliegen, die auf ihren Türen und Fenstern saßen und in ihre Stuben krochen und um die Köpfe der schlafenden Kleinkinder summten, aber wie lange konnte so etwas anhalten? Der Winter musste doch bald eintreffen, es musste doch bald schneien, die Kanäle mussten doch einfrieren. Je wärmer es wurde, desto besorgter wurden

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