Hemmersmoor
war erfahren. Ich war kaum so groß wie sie, aber sie sagte, dass ich besonders sei, und sie versäumte keine unserer Verabredungen. Sie befühlte meine Narben, küsste meine Brandwunden, meine Abschürfungen, und sie leckte sie. In der Dunkelheit fuhr sie mit der Zunge über die Unebenheiten meiner Haut, und weil es fast Frühling war und wärmer wurde, waren wir halbnackt und keuchten. Sylvia übernahm die Führung. Sie knöpfte mir die Hosen auf und zog mir die Unterhosen herunter. Sie zeigte mir, wie ich ihren BH öffnen musste, und sie fragte mich, ob ich nicht neugierig sei, wie sie ohne ihre Strumpfhosen aussähe.
Oft dauerten unsere Treffen mehrere Stunden, aber in jener Nacht forderte mich Sylvia schon bald auf, meine Kleider wieder anzuziehen, und verließ unser Versteck am Fluss.
»Wohin gehen wir?«, fragte ich.
Sie lachte. Ihre Beine waren nackt, die Strümpfe hatte sie in eine ihrer Manteltaschen gestopft. Wir ließen die letzten Häuser von Hemmersmoor hinter uns und liefen auf die kahlen Felder hinaus. Die Nacht war dunstig, Tausende feiner Tröpfchen klammerten sich an uns fest. Aber uns war warm.
»Treffen wir jemanden?«, fragte ich.
Sylvia küsste mich. »Sei still, Christian«, flüsterte sie.
Ich traute ihr und doch beunruhigte es mich, als wir immer weiter aufs Moor hinausliefen. Nach einer Weile hatten wir die Reihen der trocknenden Torfziegel hinter uns gelassen, harte Gräser überzogen den Boden. Riesenhafte Wolken zogen über unsere Köpfe hinweg. Die Lichter von Hemmersmoor waren längst nicht mehr zu sehen.
Nach etwa einer halben Stunde verlangsamte sie endlich ihre Schritte. Vor uns schossen dürre Bäume auf und winkten mit ihren Zweigen, und nach ein paar weiteren Schritten erreichten wir ein Tor. Verrosteter Stacheldraht schlängelte sich am Boden entlang.
»Du hast doch keine Angst, oder?«, Sylvia stieg das eiserne Tor hinauf. Ihre Beine schimmerten in der Dunkelheit.
Ich folgte ihr. »Wo sind wir?«, fragte ich. »Haben die Hunde hier?«
Sylvia sagte: »Pst! Hab keine Angst. Hier ist keiner.«
Wir gingen eine schmale, gepflasterte Straße entlang, und bald kamen wir zu einer niedrigen Baracke. Die Tür war abgeschlossen, Sylvia öffnete ein Fenster, und wir kletterten hinein. Sie knipste einen Schalter an, und im nächsten Moment standen wir zwischen dreißig Etagenbetten mit bloßen Matratzen, von denen einige fleckig waren. Es roch nach Staub, aber alles wirkte sauber und ordentlich.
Sylvias feuchtes Haar glitzerte unter der nackten Glühbirne, die von der Decke hing. Ihre Wangen waren rot.
»Wer wohnt hier?«
»Niemand«, sagte sie und streifte ihre Schuhe ab.
*
Drei Wochen später erzählte sie mir, dass sie sich in jemand anderen verliebt habe, einen zwanzigjährigen Fußballer, und dass wir uns nicht mehr sehen könnten.
Ich konnte nicht mehr richtig einschlafen, und ich konnte mich niemandem anvertrauen. Meine Mutter durfte nichts von Sylvia erfahren, und meine Schwester Nicole hatte keine Zeit für ›das Monster‹. Sie musste sich um ihr Baby kümmern und konnte nicht gestört werden. Was auch immer ich ihr erzählte, sie petzte es sofort meiner Mutter.
Ich musste immerfort daran denken, was Sylvia mit ihrem Neuen trieb, und darüber musste ich weinen. Aber noch schlimmer war es, als ich nach zwei Tagen in eine solche Hoffnungslosigkeit verfiel, dass ich nicht einmal mehr peinigende Bilder heraufbeschwören konnte. Meine Welt war komplett verfinstert.
Nach einer Woche beschloss ich, den Ort aufzusuchen, den mir Sylvia gezeigt hatte. Die bloße Vorstellung der Baracke belebte meinen Schmerz aufs Neue, und ich war dankbar dafür. Ich würde sie bespitzeln, beschloss ich. Ich würde sie und ihren neuen Liebhaber beobachten. Ich würde ihr nahe sein. So nah.
Aber das war schwieriger, als ich es mir vorgestellt hatte. Ein Spaziergang nach Schulschluss war völlig unergiebig, und das Tageslicht half auch nicht; nach einer Stunde, in der ich kreuz und quer über das Moor gelaufen war, stand ich knöcheltief im Schlamm. Nichts war zu sehen. Mein Gedächtnis hatte mich in die Irre geführt.
Während des Abendessens versuchte ich, das Gespräch auf das abgezäunte Gelände zu lenken, auf eine leerstehende Baracke irgendwo nördlich von unserem Dorf. Vielleicht kannten meine Mutter oder meine Schwester den Ort.
»Eine Baracke?«, fragte Nicole. Ihr Sohn hatte getrunken und schlief auf ihrem Schoß. Sie ließ mich ihm nicht nahe kommen.
»Thomas hat gesagt,
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