Henry - Das Buch mit Biss (German Edition)
Nichts sein ganzes Leben in Bildern vor
ihm abläuft, der lügt. Oder hat zumindest eine größere Fantasie, als ich sie
habe. Ich für meinen Teil spürte meinen Körper so deutlich, wie nie zuvor. Meine
Füße, die in Socken und Turnschuhen steckten und trotzdem die Kälte wahrnahmen,
die vom Steinboden aufstieg. Meine Beine, die Mühe hatten, den restlichen
Körper aufrecht zu halten. Meine Fingerspitzen, die sich leicht taub anfühlten.
Mein trockener Hals. Ich fühlte alles um mich herum mit so einer Intensität,
dass mir beinahe schwindelte.
„Ihr
müsst nicht sterben, zumindest nicht alle von euch“, fuhr Gabriel ruhig fort
und umkreiste uns, als suche er nach dem schwächsten Glied. Seine Stimme rann
wie süßer Honig aus seinem Mund. Klebrig, durchaus verlockend.
„Nicht,
dass ihr es nicht verdient hättet als Verräter an eurer eigenen Rasse. Es haben
schon Vampire wegen weniger den Kopf verloren. Wir leben in einer grausamen
Welt, meine Freunde. So grausam, dass sie jeden verschlingt, der es ihr nicht
an Grausamkeit nachtut. Wir spielen nur nach ihren Regeln. Das ist alles. Ich
muss zugeben, dass mich eure Loyalität rührt. Wenn sie auch an diese Hunde
gänzlich verschwendet wird. Ihr seid nicht die Ersten, die versuchen, sich mit
dem Feind zu verbünden. Doch was im Kleinen beginnt, kann schnell wachsen,
weswegen es ratsamer ist, solche Irrungen im Keim zu ersticken.“
Ich
hörte kaum, was er sagte. Seine Ruhe und die Ausführlichkeit mit der er seine
Beweggründe schilderte, ließen nur auf eines schließen. Er hatte sich bereits
entschieden, wessen Kräfte es wert waren, bewahrt zu werden. Er hielt diese
Rede nicht unseretwegen oder um Zeit zu schinden. Warum auch, wo das Blatt doch
eindeutig zu seinen Gunsten stand? Der Vampir-Oberste statuierte ein Exempel.
Vor den Augen seiner Gefolgschaft würde er uns bestrafen. Mehr noch. Mit
Männern an seiner Seite, die Visionen verbreiten konnten, Bilder wie lebende
Kameras an andere weitergeben konnten, würde er eine weit größere Menge
erreichen.
Sie
würden uns umbringen.
Die
Wölfe für das, was sie waren, und meine Familie und mich für meinen Leichtsinn,
mich mit den Hunden anzufreunden. Gabriel legte den Kopf schief und betrachtete
Kassia.
„Ich
hätte mehr erwartet, meine Liebe. Besonders von dir. Als wäre der Kleine der
erste Hund, den wir für unsere Experimente untersuchen. Warum ein Rudelmitglied
entführen, wenn einsame Wölfe doch so viel klangloser verschwinden?“
Scheinbar
kannten sich die beiden. Eine Verbindung, die mir vorher nicht bewusst gewesen
war. Obwohl es durchaus Sinn machte. Kassias Fähigkeiten konnten für Gabriels
Zwecke durchaus dienlich sein. Vielleicht hatte sie für ihn gearbeitet. Oder
gehörte sogar zur Familie. Ich bereute, nie mehr über sie herausgefunden zu
haben. In fünfzig Jahren war mir das nie in den Sinn gekommen. Nun war es dafür
zu spät.
Er
umkreiste uns. Seine Schritte waren die einzigen Geräusche. Die umstehenden
Vampire standen in stiller Bedrohung im Hintergrund; bereit jeden Moment
anzugreifen wenn der Oberste es befahl. Ich schaute mich um, auf der Suche nach
einem bekannten Gesicht, irgendwem der uns vielleicht zur Hilfe eilen konnte.
Da entdeckte ich zwischen den Unbekannte zwei Gestalten, deren Blicke mich
beinahe verbrannten.
Eine
schöne Rothaarige, neben ihr ein Vampir mit langem blonden Haar, welches er zu
einem Zopf trug.
Olivia
und Antoine. Welch Traumpaar.
„Warum
dann das alles?“, rief ich, und meine Stimme klang so naiv und jung, dass ich
mich für sie schämte.
Gabriel
lächelte, beinahe nachsichtig. „Es herrscht nun Krieg, oder nicht? Die Hunde
haben unseren Pakt gebrochen, Severin selbst gab den Befehl. Einige meiner
Männer verfügen über wahrhaft bewundernswerte Talente, musst du wissen. Sie
können das Gesehene in Visionen an andere weitergeben. Das genügte, um den Rest
des Rates zu überzeugen, dass eine Allianz mit Hunden zwangsläufig zum
Scheitern verurteilt ist. Die Welt wird kleiner. Je mehr Jahrhunderte vergehen,
desto weniger Platz bleibt für Unseresgleichen. Wir haben genug damit zu tun,
unsere Existenz geheim zu halten, da können wir keine Unruhe gebrauchen, die
leise vor sich hin brodelt.“
„Du
bist erbärmlich, weißt du das?“
Gabriel
fuhr herum. So respektlos angepöbelt zu werden, war er nicht gewohnt.
Nero
grinste. „Willst du uns deinen finsteren Plan vielleicht noch ausführlicher
erklären? Oder hast du bloß Schiss vor einem
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