Herbst
weit, daà er beschloÃ, das Wichtigste von dem, was er früher nicht hatte leisten können, was einfach nur durchwartet worden war, nachzuholen. Er dachte vor allem an die Kindheit, sie kam ihm, je ruhiger er sich besann, desto ungetaner vor; alle ihre Erinnerungen hatten das Vage von Ahnungen an sich, und daà sie als vergangen galten, machte sie nahezu zukünftig. Dies alles noch einmal und nun wirklich auf sich zu nehmen, war der Grund, weshalb der Entfremdete heimkehrte. Wir wissen nicht, ob er blieb; wir wissen nur, daà er wiederkam.
Die die Geschichte erzählt haben, versuchen es an dieser Stelle, uns an das Haus zu erinnern, wie es war; denn dort ist nur wenig Zeit vergangen, ein wenig gezählter Zeit, alle im Haus können sagen, wieviel. Die Hunde sind
alt geworden, aber sie leben noch. Es wird berichtet, daà einer aufheulte. Eine Unterbrechung geht durch das ganze Tagwerk. Gesichter erscheinen an den Fenstern, gealterte und erwachsene Gesichter von rührender Ãhnlichkeit. Und in einem ganz alten schlägt ganz plötzlich blaà das Erkennen durch. Das Erkennen? Wirklich nur das Erkennen? â Das Verzeihen. Das Verzeihen wovon? â Die Liebe. Mein Gott: die Liebe.
Er, der Erkannte, er hatte daran nicht mehr gedacht, beschäftigt wie er war: daà sie noch sein könne. Es ist begreiflich, daà von allem, was nun geschah, nur noch dies überliefert ward: seine Gebärde, die unerhörte Gebärde, die man nie vorher gesehen hatte; die Gebärde des Flehens, mit der er sich an ihre FüÃe warf, sie beschwörend, daà sie nicht liebten. Erschrocken und schwankend hoben sie ihn zu sich herauf. Sie legten sein Ungestüm nach ihrer Weise aus, indem sie verziehen. Es muà für ihn unbeschreiblich befreiend gewesen sein, daà ihn alle miÃverstanden, trotz der verzweifelten Eindeutigkeit seiner Haltung. Wahrscheinlich konnte er bleiben. Denn er erkannte von Tag zu Tag mehr, daà die Liebe ihn nicht betraf, auf die sie so eitel waren und zu der sie einander heimlich ermunterten. Fast muÃte er lächeln, wenn sie sich anstrengten, und es wurde klar, wie wenig sie ihn meinen konnten.
Was wuÃten sie, wer er war. Er war jetzt furchtbar schwer zu lieben, und er fühlte, daà nur Einer dazu imstande sei. Der aber wollte noch nicht.
Werke VI (Die Aufzeichnungen des
Malte Laurids Brigge), 938-946
Der Auszug des verlorenen Sohnes
Nun fortzugehn von alledem Verworrnen,
das unser ist und uns doch nicht gehört,
das, wie das Wasser in den alten Bornen,
uns zitternd spiegelt und das Bild zerstört;
von allem diesen, das sich wie mit Dornen
noch einmal an uns anhängt â fortzugehn
und Das und Den,
die man schon nicht mehr sah
(so täglich waren sie und so gewöhnlich),
auf einmal anzuschauen: sanft, versöhnlich
und wie an einem Anfang und von nah;
und ahnend einzusehn, wie unpersönlich,
wie über alle hin das Leid geschah,
von dem die Kindheit voll war bis zum Rand â:
Und dann doch fortzugehen, Hand aus Hand,
als ob man ein Geheiltes neu zerrisse,
und fortzugehn: wohin? Ins Ungewisse,
weit in ein unverwandtes warmes Land,
das hinter allem Handeln wie Kulisse
gleichgültig sein wird: Garten oder Wand;
und fortzugehn: warum? Aus Drang, aus Artung,
aus Ungeduld, aus dunkler Erwartung,
aus Unverständlichkeit und Unverstand:
Dies alles auf sich nehmen und vergebens
vielleicht Gehaltnes fallen lassen, um
allein zu sterben, wissend nicht warum â
Ist das der Eingang eines neuen Lebens?
Werke I , 491f.
Nachwort
»Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben« â wer hat nicht schon einmal im September oder Oktober diese Worte aus Rilkes »Herbsttag« fast wie eine Drohung auf sich selbst und die eigene Zukunft bezogen? Erwartet man aber darum von einer Rilke-Anthologie zum Herbst vor allem melancholische, düstere Töne, so wird man bald überrascht werden. Denn Rainer Maria Rilke liebt und feiert den Herbst wie keine andere Jahreszeit. Dabei ist es gerade das Umstürzlerische, was ihn für dessen Wehen und Wandeln einnimmt. So begeistert er sich mit bemerkenswert revolutionärem Unterton dafür, wie dieser »mit seinem Willen zur Verwandlung ⦠das viel zu fertige, viel zu befriedigte, schlieÃlich fast bürgerlich-behagliche Bild des Sommers zerstört«.
Oberster »Umgestalter« ist dabei der Sturm, dem Rilke viele Verse und Briefzeilen
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