Das große Los
Das große Los
Als es geschah, war Charles Perrin dreiundvierzig. Er war seit siebzehn Jahren verheiratet, und seine Tochter Nicole war gerade vierzehn. Zeit seines Lebens hatte er im selben Viertel von Paris gewohnt, wo er auch geboren war, in der Rue Saint-Antoine, wo Kleinhändler lebten, Handwerker und kleine Angestellte wie er.
Der Tag hatte begonnen wie alle andern, als der Wecker um halb sieben geschellt und er sich zur Radiomusik rasiert hatte, während seine Frau das Frühstück machte. Um zehn nach acht war er die vier Treppen hinabgestiegen und hatte sich auf dem Trottoir zwischen den Hausfrauen durchgeschlängelt, die kleine Obst- und Gemüsekarren umlagerten.
Vor dem Metroeingang kaufte er sich eine Zeitung und überflog beim Warten auf dem Bahnsteig die Schlagzeilen der Titelseite. Mit Lesen fing er immer erst in der Bahn an. Wie allmonatlich um diese Zeit druckte die Zeitung die Lotteriegewinne ab, und Charles Perrin musterte sie flüchtig. Seine Nummer wußte er auswendig, denn er hatte ein gutes Zahlengedächtnis. In den drei Jahren, seit er sich jeden Monat ein Los kaufte, hatte er noch nie gewonnen, einen Hauptgewinn hatte er sich nie vorstellen können, höchstens einen Nebengewinn von fünf- oder zehntausend Francs, deshalb las er die Zahlenkolonne von unten nach oben.
Da, während er von ein- und aussteigenden Fahrgästen angerempelt wurde, sprang ihm seine Losnummer in die Augen, nicht von der Liste, sondern fettgedruckt oben aus der Schlagzeile. Auch wenn er sich noch so die Augen rieb, sein Los aus dem Geldbeutel zog, die Zahlen einzeln verglich, er mußte sich der Sache stellen: Er hatte tatsächlich das große Los von fünf Millionen Francs gezogen.
In der Rue d’Enghien, im Geschäftsviertel, bei Gavelle & Saimbron, Porzellan und Glaswaren en gros, sagte er kein Sterbenswort. Wie jeden Tag trat er um zwölf aus dem Glaskasten, in dem sein Schreibtisch stand, und ging zum Mittagessen in die kleine Brasserie gegenüber, wo seine Serviette im Regal lag, und er traute sich erst um zwei, an Monsieur Saimbrons Bürotür zu klopfen. Er trat so verlegen auf, daß dieser mißtrauisch fragte:
»Sie kommen doch hoffentlich nicht wieder wegen einer Gehaltserhöhung?«
In neunzehn Jahren war ihm das ganze drei Mal passiert, jedesmal auf energisches Drängen seiner Frau.
»Nein, Monsieur. Ich ginge nur gern auf ’ne Stunde weg, zum Zahnarzt.«
Am Hauptsitz der Landeslotterie wunderte sich niemand, daß er seinen Namen nicht preisgab. Vor ihm hatten schon andere auf Anonymität bestanden, weil sie nicht in die Schlagzeilen kommen wollten oder Angst hatten vor Schnorrern. Danach fuhr er mit dem Taxi in ein Viertel am andern Ende der Stadt, zur Porte Maillot, und zahlte dort in einer Sparkassenfiliale sein Geld ein.
Nach Feierabend, auf dem Heimweg, leistete er sich bloß etwas Konfekt und erläuterte auf den mißtrauisch-tadelnden Blick seiner Frau hin hastig:
»Monsieur Saimbron hat mir was in Aussicht gestellt. Ende des Monats bekomme ich eine Gehaltserhöhung.«
»Hast du dich endlich durchgerungen und eine verlangt?«
Sie wollte ihren Ohren nicht trauen. Sogar vor Nicole nörgelte sie dauernd an ihm herum:
»Du bist und bleibst ein mickriger kleiner Buchhalter. Keinerlei Ehrgeiz hast du, nicht mal den Mumm, vor deinen Chef hinzutreten.«
Am nächsten Tag indes klopfte er noch mal an die Tür des gefürchteten Monsieur Saimbron.
»Wollen Sie etwa schon wieder zum Zahnarzt?«
»Nein, Monsieur. Ich möchte kündigen. Meine Frau und ich haben beschlossen, von Paris wegzuziehen. Wir haben da ein Häuschen auf dem Land geerbt.«
Seine ersten Lügen. Er mußte sich nach und nach dran gewöhnen. Nach außen hin hatte sich in seinem Leben nichts geändert. Er stand immer noch früh um halb sieben auf, rasierte sich zur Radiomusik, ging um zehn nach acht aus der Wohnung und schritt zur Metrostation.
Doch statt an der Rue d’Enghien auszusteigen und sich dort in den Glaskäfig zu setzen, fuhr er weiter zur Nationalbibliothek. Was hätte er auf den Pariser Straßen früh um halb neun sonst auch anfangen sollen? Er las fürs Leben gern, doch hatte er dieser Leidenschaft nie frönen können, denn jedesmal, wenn er nach dem Abendessen ein Buch in die Hand nahm, hatte seine Frau irgendwas mit ihm zu bereden, oder Nicole wollte, daß er ihr bei den Hausaufgaben half.
Er las die gesammelten Werke von Alexandre Dumas von der ersten bis zur letzten Zeile, dann weitere Autoren, einschließlich ihrer
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