Herbstfrost
Schwarz und
Grau. Lediglich unterbrochen vom Aufflackern eines hellen Schimmers.
Was er spürte? Nichts, nichts, nichts mehr.
Sein Körper war eine nutzlos gewordene Schale, hohl, leer.
Und dann spürte er doch etwas. Es war mehr eine Ahnung als ein
Spüren. Es war ein Phantomgefühl: Er, der keine Gefühle mehr hatte, dem sie von
einer auf die andere Sekunde abhandengekommen waren, fühlte doch noch etwas.
Wie er so dalag, war er sich ganz sicher, dass jemand direkt neben ihm stand.
Er glaubte, Fußspitzen an seinem Rumpf zu spüren, glaubte, die Wärme zu fühlen,
die von diesem Menschen ausging, und glaubte, nicht allein zu sein.
Und dann spürte er tatsächlich, dass dieser Mensch, den er nicht
sehen konnte, weil sein Augenlicht fast völlig gebrochen war und weil ihm
wahrscheinlich zudem noch das Blut in Strömen übers zur Seite gedrehte Gesicht
lief, dass dieser Mensch sich bückte, zu ihm herunterbückte, um ihm zu helfen.
Er fragte sich nicht, woher dieser Mensch plötzlich gekommen sein
konnte. Hätte er noch einen Hauch Erinnerungsvermögen besessen, er hätte sich
das gefragt. Aber so …
»Aahnch …«
Mannhardt versuchte, etwas zu sagen. Diesem Menschen neben ihm zu
sagen, was ihm geschehen war, warum er da lag, warum er seine Hilfe brauchte.
Doch es gelang ihm nicht. Zumindest er hörte nicht den geringsten Ton von sich
selbst.
Aber er hörte etwas anderes: Stein. Es hörte sich an, als würde
der Mensch neben ihm einen Steinbrocken vom Boden heben. Stein schabte über
Stein. Und es war ihm, als wäre ein Atmen nahe bei ihm.
Wieder versuchte er, etwas zu sagen. Aber es quoll nur
irgendetwas Feuchtes, Schleimiges aus seinem Mund.
»Nuhmmh … norrch …«
Dann kam ein Augenblick großer Klarheit: Die Apathie wich für den
winzigen Moment. Er sah das Blau des Himmels noch einmal aufblitzen. Zugleich
spürte er seine Unfähigkeit zu sprechen, er schmeckte das Blut in seinem Mund –
und er wurde gewahr, dass er sterben würde, in dieser Minute oder in einer
halben Stunde.
Erstaunlich war für ihn nur, dass ihn diese Gewissheit weder in
Angst noch in Traurigkeit versetzte. Dass er nichts empfand, als er an seinen
Tod dachte.
Dann sah er wieder diesen Schatten. Nur eine Bewegung, etwas, das
durch seinen brechenden Blick wischte. Ob das der Tod war?
Es war der Tod!
Ein weiterer ungeheurer Schlag traf ihn am Kopf. Er hörte das
Knacken seines Wangenknochens, das Bersten seines Kiefers, und es war ihm, als
würde ihm das ganze Gesicht weggerissen.
Er schrie. Schrie, schrie, schrie.
Und jetzt hörte er sich! Er konnte sich hören!
Dann verlor er den letzten Rest Bewusstsein, den er noch in sich
gehabt hatte. Es war eine Erlösung. Er hatte das Leben losgelassen, hatte das
Tor in eine andere Welt durchschritten. Die andere Welt war schwarz wie eine
sternlose Nacht. Und sie war ein Trugbild.
Die andere Welt nahm ihn nicht auf. Noch nicht. Sie ließ ihn kurz
hineinschauen – und dann spuckte sie ihn wieder aus. Seine letzte Stunde hatte
eben erst begonnen …
Er wurde an den Beinen über den harten, rauen, grausamen
Felsboden gezogen, über Schotter und Kies. Er war nicht in der Lage, sich
dagegenzustemmen. Nicht einmal die Finger gehorchten ihm noch. Brutal wurde er
vom Weg geschleift, wie von einem großen, wilden Tier. Wie von einem
Alaskabären oder einem ausgewachsenen Löwen. Und dann …
Plötzlich war alles nur noch Bewegung. Schmerz und Bewegung.
Rasender Schmerz und rasende Bewegung.
Nach der Rückkehr aus der anderen nachtschwarzen Welt war noch
einmal Gefühl in ihm: Schmerz!
Mannhardt stürzte. Nicht im freien Fall, sondern eine steile
Flanke hinunter. Über Geröll und Schrofen, sich wieder und wieder
überschlagend. Er schlug auf, wurde hochgewirbelt, schlug wieder auf.
Es war, als wäre er inmitten eines reißenden Flusses in einen
mörderischen Strudel geraten. Er fühlte sich hinuntergezerrt, hinuntergezogen,
fühlte alle Gliedmaßen verdreht. Sein Kopf war schon gebrochen. Nun brachen die
Schultern, die Oberschenkel, die Kniescheiben und auch das Rückgrat.
Als er zum Liegen kam, nicht mehr fortgerissen wurde, da hätte er
eigentlich tot sein müssen. Aber er war wieder nur einen Schritt über die
Schwelle gegangen. Seine letzte Stunde war noch nicht vorüber. Noch lange
nicht! Er hatte noch fast vierzig Minuten vor sich. Die längsten Minuten seines
Lebens. Aber es war ja schon kein Leben mehr. Doch er war auch noch nicht tot.
Der Tod spielte noch mit ihm wie eine
Weitere Kostenlose Bücher