Der bleiche König: Roman (German Edition)
Vorbemerkung des Übersetzers
Natürlich braucht der erfahrene Leser von David Foster Wallace keine Vorbemerkung, um den nachgelassenen und Fragment gebliebenen letzten Roman des Autors zu verstehen. Alle erfahrenen Wallace-Leser blättern also bitte gleich vor zum Romananfang. Da aber gerade in der ersten Hälfte viele Personen eingeführt werden, deren Wiedererkennen im Handlungsverlauf nicht immer leichtfällt, hier eine kleine Orientierungshilfe im Hinblick auf Struktur und Figurenensemble.
Der Roman Der bleiche König spielt hauptsächlich Mitte der Achtzigerjahre in einem Steuerprüfzentrum des Internal Revenue Service ( IRS ) in Peoria, Illinois. Wallace versetzt uns also dreißig Jahre in die Vergangenheit zurück. Es schließen sich jedoch weitere Zeitsprünge um zehn bis zwanzig Jahre an. Der Roman hat keine Hauptfiguren im strengen Sinn, sondern ist von einer Art Gruppenkonstellation geprägt. In den ersten Kapiteln werden die bis in die Sechziger- und Siebzigerjahre zurückreichenden und manchmal sehr bewegten und bewegenden Vorgeschichten einzelner Figuren erzählt, wobei Wallace hier absichtlich Verwirrung stiftet und mit kalkulierten Aussparungen arbeitet: Teilweise werden diese Figuren im weiteren Romanverlauf wichtig, teilweise werden sie aber auch in kleinen Prosavignetten sehr plastisch vor Augen geführt, haben später aber nur noch kurze Auftritte.
In einer solchen Rückblende lernen wir in § 8 beispielsweise Toni Ware als Kind kennen, die aus dysfunktionalen Familienverhältnissen im White Trash der Südstaaten stammt und mit ihrer psychotischen Mutter, die immer wieder wochenlang in geschlossenen Anstalten verschwindet, von einer Trailersiedlung zur nächsten zieht. Bei einem Autounfall kommt die Mutter ums Leben, und Toni entwickelt sich zu einer ausgewachsenen Sadistin. In der Gegenwartshandlung, in den Achtzigerjahren also, arbeitet sie im IRS in Peoria, und wir bekommen sie einmal kurz und von fern in einem Großraumbüro zu sehen.
In einer vergleichbaren Rückblende, die sich allerdings zum mit Abstand längsten Kapitel des ganzen Romans auswächst, schildert ein Steuerprüfer namens Chris Fogle seine psychedelischen Butterfahrten durch die Gegenkultur der Siebzigerjahre (§ 22). Der junge Lane Dean jr. diskutiert mit seiner ungewollt schwanger gewordenen Freundin Sheri Fisher über eine Abtreibung (§ 6), und David Cusk leidet seit seiner Schulzeit unter pathologischen Schweißausbrüchen (§ 13). In einer in sich abgeschlossenen Satire in § 5 wird Leonard Stecyk vorgestellt, der als Schüler im Jahr 1965 eine solche Plansollübererfüllung des Guten praktiziert, dass er seinen Mitmenschen ebenso wie dem Leser schwer auf die Nerven geht, weil sein Altruismus einem ständig die eigenen moralischen Defizite vorhält. Ein Berufsanfänger namens David Wallace, der sich als Autor des Romans ausgibt, wird in einer auf Namensgleichheit beruhenden Verwechslungskomödie als hochrangiger Steuerprüfer eingestuft, erzählt aber auch, wie er im Studium als Ghostwriter seinen Kommilitonen die Seminararbeiten geschrieben hat.
Etwa in der Mitte des Buchs tritt der Roman in eine neue Phase ein. Die Struktur der Steuerbehörde ist etabliert, die Figuren sind vorgestellt, ab jetzt werden sie vernetzt, und die bis dahin teilweise noch isolierten Erzählstränge werden in der statischen Angestelltenwelt der Steuerbehörde zusammengeführt. David Cusk und Toni Ware nehmen an einem Orientierungskurs für Steuerprüfer teil. Der un-ter einer schweren Hautkrankheit leidende David Wallace sitzt im IRS -Transporter zum Steuerprüfzentrum neben dem schwitzenden David Cusk. Lane Dean jr. wird an seinem Arbeitsplatz von einem Geist besucht. Es wird Behördenfolklore erzählt, in den Arbeitspausen macht man Small Talk über Münzsammler sowie den letzten gemeinsamen Grillabend und zieht über die Vorgesetzten her. Diese Vorgesetzten ihrerseits, die ranghöheren Gruppen- und Abteilungsleiter, diskutieren in einem stecken gebliebenen Fahrstuhl über verfassungsrechtliche Grundlagen der USA und die Geschichte des amerikanischen Steuerrechts. Wichtig werden in der zweiten Hälfte des Romans auch Meredith Rand und Shane Drinion, die nach der Arbeit gemeinsam in die Kneipe gehen, wo sich zwischen Femme fatale und Homme banale dann eine Art Beziehungsgespräch ergibt, das – mit umgekehrtem Vorzeichen – eine Fortsetzung von Wallace’ Erzählungen in Kurze Interviews mit fiesen Männern sein könnte. In einem
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