Herbsttagebuch: Roman (German Edition)
gepresste
Blätter und Blüten zwischen den Zeilen. Sie hat Blumen und Vögel gezeichnet (fast
so schön wie Alfred Brehm), ein hübsches von Pappeln gesäumtes Landhaus getuscht
und Fotos eingeklebt. Scheinbar war sie eine sehr romantische Person. Zu gern wüsste
ich, was sie aufgeschrieben hat.
»Meinst
du, ich darf es lesen?«, frage ich Basti und betrachte dabei das Foto eines jungen
Mannes mit Backenbart (schreckliche Mode!) und akkurat gescheitelten Haaren. Er
schaut ziemlich staatstragend, um nicht zu sagen unsympathisch, in die Kamera. Ob
das Augustas Ehemann war?
»Warum denn
nicht?«, fragt er zurück.
»Es ist
doch ein Tagebuch und das ist privat.«
»Aber die
Schreiberin ist längst tot.«
»Und Tote
haben keine Privatsphäre mehr?«
»Nein«,
sagt Basti nüchtern. »Viele berühmte Leute haben Tagebücher geschrieben. Das sind
unschätzbar wertvolle Zeitzeugnisse. Stell dir vor, wir würden sie nicht kennen!«
Dieses Argument
überzeugt mich. »Ich hatte überlegt, ob Augusta nicht sogar wollte, dass
jemand ihr Buch findet.«
»Na also«,
sagt Basti. »Das einzige Problem dürfte die Sache mit der Lesbarkeit sein. Du findest
im Internet garantiert Buchstabentafeln. Das Entziffern wird sicher dennoch schwierig
sein.«
»Ach, das
schaffe ich«, antworte ich selbstsicher.
Leider muss
Basti bald nach unserem verspäteten Frühstück los ins Krankenhaus. Er hat eine Doppelschicht.
»Wann sehen
wir uns wieder?«
»Ich ruf
dich an«, sagt er.
Wie immer.
Nicht weil er mich nicht sehen will, sondern weil er nie weiß, wann er von der Arbeit
nach Hause kommt. Er macht meistens Überstunden. Danach ist er todmüde und fährt
in seine eigene Wohnung, um erst einmal zu schlafen.
Ich weiß,
dass er anruft, wenn er Zeit hat. Wann das ist, das weiß ich leider nie.
Manchmal besucht er mich zwischen zwei Schichten in der Schneiderei, und wir gehen
ins ›Schraders‹ einen Kaffee trinken. Besser als nichts.
Am Abend kommen Vicki und Daniel
von ihrem Kurztrip zurück. Sie haben jede Menge Räucherfisch mitgebracht, der die
ganze Küche in einen intensiven Duft hüllt.
»Das ist
total hübsch«, sagt Vicki und guckt sich neugierig in meinem Zimmer um. »Wie ich
sehe, bist du richtig kreativ gewesen.«
Auf dem
Boden liegen mehrere Zeichnungen von mir – inspiriert von Augustas Foto, auf dem
sie ein elegantes langes Kleid mit streng betonter Taille, schmalen, eng anliegenden
Ärmeln und einem geraden Ausschnitt trägt. Die Farbe des Stoffes kann man auf dem
sepiafarbenen Foto nicht erkennen. In meiner Vorstellung ist das Kleid aus hellblauer
Seide gefertigt und die Spitzeneinsätze aus gleichfarbigem Chiffon – ein schöner
Kontrast zu Augustas dunklen gelockten Haaren, in denen eine üppige Perlenspange
steckt. Einige kleine Änderungen und ich habe nach dem historischen Vorbild ein
balltaugliches Kleid für Eva Andrees gezeichnet – wunderbar feminin, jedoch nicht
zu aufreizend. Bastis Mutter wird in diesem Jahr 60, was man ihr kein bisschen ansieht.
Ich denke, dieses Kleid wird ihr gefallen.
Auf meinem
Schminktisch liegt das alte Tagebuch. Ich berichte Vicki, wo ich es gefunden habe
und wem es gehört.
»Ach nee,
Augusta, das alte Fossil«, sagt Vicki lachend und nimmt sich das Buch. »Du weißt,
was ihr passiert ist?«
Ich seufze und verdrehe leicht genervt die Augen.
War klar, dass Vicki wieder mit ihrem Lieblingsschauermärchen
anfängt. In ihrer Familie erzählt man sich seit Generationen, dass Augusta von Liesen
nur scheintot war und somit aus Versehen lebendig begraben wurde. Jahre nach ihrem
Tod, als man die Gruft der Familie wieder öffnete, fand man ihr Skelett statt im
Sarg vor der Tür der Grabanlage liegend. Und Kratzspuren am Stein.
Mit dieser Gruselgeschichte hat mich Vicki in Angst und Schrecken
versetzt, als ich bei ihr eingezogen bin. Ich habe mich nachts kaum durch den langen
Flur aufs Klo getraut, aus Angst, Augustas armem, gequältem Geist zu begegnen.
»Meinst du nicht, dass die Geschichte Blödsinn ist?«
Vicki zuckt die Schultern. »Ehrlich gesagt, habe ich nie
groß darüber nachgedacht. Es ist eine lustige Anekdote, mehr nicht.«
»Lustig?«
»Rosa, nun
leg nicht jedes Wort auf die Goldwaage. Ich meine nicht, dass es lustig ist, wenn
man lebendig begraben wird, sondern dass man sich diese Geschichte erzählt in meiner
Familie. Das ist lustig.«
»Und wo
ist da der Unterschied?«
Jetzt verdreht
Vicki die Augen.
»Wollen
wir lesen, was sie geschrieben hat?«,
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