Herbsttagebuch: Roman (German Edition)
im Museum‹ ist natürlich Lilas
Lieblingsfilm. Ich finde ihn nicht ganz so lustig.
Draußen
grollt der Donner.
Die alten
Bücher in den finsteren, schweren Schränken wirken plötzlich gespenstisch auf mich.
Also nehme ich meinen Tee und das verstaubte Buch und verlasse eilig die Bibliothek.
Vickis verblichene Ahnen im langen Flur gucken säuerlich aus ihren Bilderrahmen
auf mich herab. In meinem Nacken prickelt es, als ich vorübergehe. So ähnlich müssen
sich Rehe fühlen, wenn sie einen Wolf wittern.
Oh Mann!
Vicki hat recht. Alleinsein ist eindeutig schädlich für mich!
In der Küche
schalte ich alle Lichter an. Vorsichtig wische ich meinen Fund mit einem weichen
Tuch ab. Ich will schließlich keinen weiteren Schaden anrichten, auch wenn dieses
Buch anscheinend nie einer vermisst hat.
Unter dem
Staub kommt ein hübscher brauner Ledereinband zum Vorschein. In golden geprägten
Buchstaben steht ›Tagebuch‹ darauf.
Ist das
spannend! Meine Neugier ist sofort geweckt. Meine morbiden Fantasien ebenso. Vielleicht
ist die Person, die das Tagebuch einst verfasst hat, sauer, dass ich in ihren Geheimnissen
herumstöbern will, und sucht mich heute Nacht heim, wenn ich in meinem Bett liege
und schlafe. Vielleicht ist das Buch mit Absicht an diese verborgene Stelle gelegt
worden. Tagebücher, denen man seine intimsten Gedanken anvertraut, sollen schließlich
nicht für jedermann griffbereit im Regal stehen.
Hätte ich
es liegen lassen sollen? Wieder überläuft mich ein Schauer. Diese Mischung aus Alleinsein,
Gewitter und dem ganzen alten Zeug in Vickis Wohnung bekommt mir nicht.
Rosa Redlich.
Du bist ein überdrehtes Huhn. Und Oma Redlich, du bist schuld daran. Warum musstest
du mir immer so viele Schauermärchen erzählen, als ich klein war? Das habe ich nun
davon.
Mein Handy
piepst seinen fröhlichen SMS-Ton und holt mich zurück in die Wirklichkeit. Glücklich
lese ich die kurze Nachricht. Basti ist auf dem Weg zu mir! Er steigt gerade ins
Flugzeug und ist in zwei Stunden in Berlin. Das Tagebuch verwandelt sich von einer
gruseligen Geisterherberge in eine simple Seitenanhäufung aus Papier zurück.
Plötzlich
bin ich mir fast sicher, dass die Person, die das Buch geschrieben hat, sogar wollte ,
dass es irgendwann einmal gefunden wird. Nur, warum?
Allmählich
hört das Gewitter auf zu toben.
Ich mache
mir ein Käsebrot mit Radieschensprossen und gieße mir Tee in die Tasse. Ganz vorsichtig
schlage ich das Buch auf und schaue mir ein paar Seiten an. Sie sind tatsächlich
handbeschrieben. Die Schrift ist klein, gleichmäßig und leicht nach rechts geneigt.
Eindeutig eine Frauenhandschrift. Und dennoch: Ich kann kein einziges Wort lesen.
Das sind ganz altertümliche Buchstaben, die unseren heutigen überhaupt nicht ähnlich
sehen.
›Adlblgd…‹
lese ich. Oder so was Ähnliches. Jedenfalls nichts, was Sinn ergibt.
Enttäuscht
klappe ich das Buch wieder zu. Ich hatte auf spannende Lektüre und pikante Enthüllungen
aus dem Leben Vickis adliger Vorfahren gehofft. Stattdessen habe ich nur völlig
krasse Hieroglyphen gefunden.
Als ich
das Tagebuch über den Tisch von mir wegschiebe, sehe ich, dass unten ein kleines
gepresstes Blümchen herausguckt. Entzückend! Nun ist es eindeutig, dass es jemand
von Vickis weiblicher Verwandtschaft geschrieben hat. Ein Mann hätte mit Sicherheit
ein Hirschgeweih oder ein Bärenfell eingeklebt. Dann hätte mich das Büchlein völlig
kalt gelassen. Aber Blumen? Das ist total süß!
Wieder öffne
ich die Seiten – diesmal ganz vorn. Juhu, da ist ein Foto! Große dunkle Augen in
einem schmalen hübschen Gesicht schauen mich offenherzig an. Wow! Das gibt es ja
gar nicht. Die Frau sieht genauso aus wie Vicki! Nur in altmodisch. Wahnsinn!
Mein Blick
fällt auf die Bildunterschrift. Sie ist sorgsam in Druckbuchstaben geschrieben.
Die sind – welch ein Glück – im Gegensatz zur Schreibschrift sehr gut lesbar.
Augusta von Liesen. Mein achtes
Tagebuch.
Begonnen am 10. September 1912.
Das ist nicht zu glauben!
Die hübsche
junge Frau ist also Augusta! Vickis Urgroßtante, deren Porträt im Flur ganz hinten
links hängt, und die mich immer besonders giftig mustert, wenn ich an ihr vorübergehe.
Ich schnappe
mir das Buch, laufe in den Flur und vergleiche die Gesichter.
Also, das
Gemälde ist wirklich schlimm. Kein Wunder, dass Vicki immer Witze darüber macht.
Der Maler hat sich keine besondere Mühe mit der Naturtreue gegeben. Vickis Urgroßtante
sieht aus, als
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