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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ergötzen!«
    Wovon sprach sie? Ich räusperte mich und wollte nachfragen, doch sie hatte sich schon wieder umgedreht und die Haustür erneut aufgeschlossen. Als sie nach den Tüten griff, glaubte ich die Worte »Journalistengeschwerl von der Kronenzeitung« zu verstehen. Bevor sie mir die Tür vor der Nase zudrückte, rief ich: »Ich bin doch nicht von der Zeitung. Ich bin die Tochter. Frau Sternberg ist meine Mutter.«
    Bei diesen Worten hielt sie inne und grinste hämisch: »So, so, die
Tochter
! Aus welcher Versenkung ist die denn plötzlich aufgetaucht!« Ihr Lachen klang bitter, offenbar glaubte sie mir nicht.
    Ich rief ihr hinterher: »Aber ich bin Frau Sternbergs Tochter. Ich bin heute aus Deutschland gekommen. Meine Mutter hat mich angerufen. Vor einer Woche. Sie wollte mich   …« Ich verstummte. Was tat ich da eigentlich? Wieso legte ich einer fremden Frau Rechenschaft darüber ab, wer ich war? Etwas in meinem Schweigen schien die Frau zu berühren, denn sie war stehen geblieben und sah mich nun mit einem forschenden Blick an. Mit einem Mal wirkte sie unsicher. Sie öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen, schien jedoch nicht recht zu wissen, was oder wie. Als sie dann doch sprach, klang ihre Stimme auf einmal leise und ich hatte Mühe, sie zu verstehen: »Ja, dann können Sie es freilich noch gar nicht wissen   …« Ihr Blick ging mir durch Mark und Bein, und noch bevor sie weitersprach, wusste ich, dass etwas Entsetzliches passiert sein musste.
     
    Sie hielt mir die Wohnungstür auf und führte mich zu einem Stuhl, auf den ich mich jedoch nicht setzte.
    »Die Tochter san S’?«
    Meine Finger umfassten die Stuhllehne. Ich nickte und sah sie an. Sie erwiderte meinen Blick.
    »Sie hat von Ihnen erzählt, manchmal. Sie wohnen am Bodensee, nicht?« Und schließlich, als es nichts anderes mehr zu fragen und zu sagen gab, hörte ich die Worte, die später noch lange in mir nachhallen sollten, so unbegreiflich und furchtbar waren sie:
    »Sie ist tot. Ihre Mutter ist tot.«

 
    Gestern Nacht träumte ich wieder von Hohehorst. Es war das erste Mal nach all den Jahren, und selbst im Traum spürte ich das Erstaunen, das mit dieser unvermittelt auftauchenden Erinnerung einherging. Wie am Tag meiner Ankunft saß ich im Wagen vor den beiden Pförtnerhäusern und links und rechts des Tores ragten die Laternen wie grausame Kronen in die Dämmerung. Wie damals öffnete sich das Tor wie von Geisterhand und der Wagen setzte sich lautlos in Bewegung, glitt vorüber an den wehrhaften Kronen und in den Wald hinein. Der Weg vor uns verlor sich im Dunst, er schien ins Nichts hineinzuführen. Die Bäume nahmen Gestalt an und verschwanden wieder, Zweige schienen wie Hände nach mir zu greifen. Und plötzlich – zu plötzlich – stand ich vor dem Haus, auf einem leeren Platz, ganz allein. Der Wagen mit dem Chauffeur war verschwunden und rings um mich her war nichts zu hören als das leise Prickeln der Feuchtigkeit auf den Blättern. Ich sah empor an den grauen Mauern, ließ meinen Blick über die unzähligen Fenster gleiten, die alle seltsam leblos wirkten, wie erloschene Augen. Und während ich noch zögerte und mich fragte, was nun zu tun sei, erschien ein Gesicht hinter einer Scheibe, hoch oben, im zweiten Stock, ganz am Ende des Hauses. Ein Mann stand dort und sah zu mir herunter, bewegungslos. Und noch während ich hinaufstarrte und sein Gesicht zu erkennen suchte, hielt ich plötzlich ein Kind im Arm, in eine Decke gewickelt, wie ein Bündel. Das Kind begann zu wimmern und ich murmelte sinnlose Worte des Trostes vor mich hin. Als ich aufblickte und wieder nach oben sah, war der Mann verschwunden. Und plötzlich wusste ich, dass ich fortlaufen musste, jetzt, sofort, so schnell ich konnte. Der Mann würde versuchen, mir das Kind wegzunehmen. Da tauchte auchschon eine Gestalt aus dem Dunst hinter mir auf, und noch bevor ich ihn erkannte, wusste ich, dass er es war.
     
    Es war dieser Traum, der mich bewog, meine Geschichte niederzuschreiben. Natürlich frage ich mich, wem es nutzt, wenn all das, was ich erlebt, all das, was ich getan habe, ans Tageslicht kommt. Letztendlich ist es nicht mehr als der Versuch eines Menschen, schreibend eine Art Absolution zu erfahren.
    Ich weiß nicht recht, wo ich beginnen soll. Lange habe ich wach gelegen, die Nacht malte ihre Schatten an meine Zimmerwand, und manchmal, wenn ein Auto vorüberfuhr, fingen die Schatten an zu wandern, über Wand und Decke. Ich bin schließlich aufgestanden

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