Herr der Krähen
Medizinmann, die Ältesten und sogar die Soldaten seien den Krokodilen im Red River zum Fraß vorgeworfen worden, um ewiges Schweigen über den Fluch sicherzustellen. Zur Erinnerung an diesen Tag seiner Errettung ließ der Herrscher den Red River auf den Burĩ-Scheinen abbilden – neben seinem eigenen Konterfei das einzige Bild, das je auf Banknoten der aburĩrischen Währung zu Ehren gelangte.
Allerdings beunruhigte ihn noch immer der Gedanke, dass der Ziegenbock einen Bart hatte. Deshalb konsultierte er heimlich ein Orakel in einem Nachbarland, das ihm versicherte, nur ein bärtiges Geisterwesen könne seine Herrschaft ernsthaft bedrohen. Obwohl er eigentlich überzeugt war, kein Mensch könne ihn je stürzen und Geisterwesen könnten sich, weil sie keine körperliche Form besaßen, gar keine Bärte wachsen lassen, reagierte er von nun an empfindlich auf Bärte. Er erließ ein Dekret, das unter der Bezeichnung „Das Bartgesetz“ in die Geschichte einging und besagte, dass alle Ziegen und Menschen sich die Bärte zu stutzen hätten.
Einige bezweifeln diese Geschichte über den bärtigen Ziegenbock und behaupten sogar, das Bartgesetz beziehe sich lediglich auf Soldaten, Polizisten, Verwaltungsangestellte und Politiker, und die Hirten kürzten ihren Ziegenböcken die Bärte aus eigenem Antrieb, weil das Stutzen der Ziegenbärte bei den aburĩrischen Hirten damals sehr in Mode war.
Die ewigen Zweifler fragten sich: Was hatte das Blöken eines Ziegenbocks, dem Anus, Nase und Ohren zugenäht worden waren, mit der seltsamen Krankheit des Herrschers zu tun?
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Nun meldeten sich andere mit einer dritten Theorie zu Wort, die besagte, die Krankheit habe – da schließlich nichts ewig währt – damit zu tun, dass seine Herrschaft in die Jahre gekommen sei: Er saß bereits so lange auf dem Thron, dass er sich selbst nicht mehr erinnern konnte, wann seine Regierungszeit eigentlich begonnen hatte. Seine Herrschaft kannte weder Anfang noch Ende; und bedenkt man die Tatsachen, dann könnte man diese Behauptung durchaus glauben. Kinder waren geboren worden und hatten anderen das Leben geschenkt, die wiederum Kinder in die Welt gesetzt hatten. Seine Herrschaft aber hatte alle Generationen überdauert, sodass einige Leute, wenn sie hörten, es habe vor ihm einen ersten Herrscher gegeben, dem Gouverneure und Sultane in den Zeiten der Araber, Türken und Italiener bis hin zu den Briten vorausgegangen waren, nur ungläubig den Kopf schüttelten und sagten: Nein, nein, das sind Ammenmärchen von Tagträumern. Aburĩria hatte niemals einen anderen Herrscher und könnte auch niemals einen anderen haben. Hatte denn nicht die Herrschaft dieses Mannes begonnen, bevor die Welt überhaupt ihren Anfang nahm, und würde sie nicht erst mit dem Ende der Welt enden? Doch selbst diese Vermutung war von Zweifeln durchsetzt, denn wie sollte die Welt zu ihrem Ende finden?
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Die vierte Theorie behauptete, seine Krankheit habe ihren Ursprung in den ungeweinten Tränen, die Rachael, seine rechtmäßige Frau, in ihrer Seele verschlossen hatte, seit sie bei ihm in Ungnade gefallen war.
Der Herrscher und seine Frau hatten sich eines Tages entzweit, als Rachael ihn nach den Schulmädchen fragte, die Gerüchten zufolge häufig ins State House gebeten wurden, um ihm das Bett zu bereiten, in dem er sich dann wie ein „alternder Weißer“ an den jungen Küken erfreute. Selbstverständlich würde der Herrscher niemals zugeben, dass er alterte. Der Vergleich mit dem Weißen dagegen bereitete ihm keinerlei Schwierigkeiten und so änderte er die Aussage dahingehend, dass ein Weißer seine Jugend mit jungen Küken erneuert. Man stelle sich vor, wie er sich gefühlt haben muss, als Rachael ihm diesen Jungbrunnen verbieten wollte! Wie taktlos und ungeschickt von ihr, das Unfragbare zu fragen! Seit wann konnte einem Mann, einem Herrscher zudem, das Recht abgesprochen werden, sich zwischen den Schenkeln einer Frau seinen Weg zu bahnen, seien es nun Schulmädchen oder die Ehefrauen anderer Männer? Was für eine Witzfigur gäbe er ab, wenn er auf sein Recht verzichtete, alle Frauen im Land zu begatten nach Art der Gebieter des Alten Europa, denen das „droit de seigneur“ das Vorrecht auf jede Braut gewährte?
Rachael dachte, sie verhielte sich angemessen. „Ich weiß“, sagte sie, „du nimmst den Titel Vater der Nation ernst. Du weißt, dass ich mich nie über die Frauen beschwert habe, die dir das Bett machen, egal wie viele Kinder du mit ihnen zeugst.
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