Herr der Krähen
dunklem Nadelstreifenanzug und mit einer roten Krawatte mit dem Bildnis des Herrschers, dem Emblem der Ruler’s Party.
Wie erzählt wird, war Markus anfangs ein ganz gewöhnlicher Parlamentsabgeordneter. Eines Tages flog er nach England, wo er im grellen Schein der Öffentlichkeit ein berühmtes Londoner Krankenhaus betrat. Nicht weil er krank war, sondern weil er sich die Augen vergrößern lassen wollte, um seinen Blick auf das Außerordentlichste zu schärfen. Oder, wie er es in Kiswahili ausdrückte: Yawe Macho Kali – damit sie die Feinde des Herrschers ausmachen konnten, egal wie weit entfernt ihre Verstecke auch lagen. Zur Größe von Glühlampen aufgeblasen, waren die Augen nun das herausragende Merkmal seines Gesichts und ließen Nase, Wangen und Stirn wie die eines Zwerges erscheinen. Der Herrscher war von seiner Ergebenheit und der öffentlichen Zurschaustellung seiner Loyalität derart gerührt, dass er ihm, noch bevor der Abgeordnete aus England zurückkehrte, das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten übertrug, einen überaus wichtigen Posten im Kabinett, damit Machokali überall stellvertretend für ihn sein waches Auge haben würde, in welchem Winkel des Erdballs auch immer die Interessen des Herrschers zu verfolgen waren. Und so wurde Machokali aus ihm, und im Laufe der Zeit vergaß er sogar den Namen, den man ihm bei seiner Geburt gegeben hatte.
Links vom Herrscher saß ein anderes Kabinettsmitglied: der Staatsminister im Büro des Herrschers, in einem weißen Seidenanzug, ein rotes Taschentuch in der Brusttasche und selbstverständlich ebenfalls mit Parteikrawatte. Auch er hatte als wenig herausragender Abgeordneter angefangen und wäre vermutlich nie über die Hinterbank hinausgekommen, wenn er nicht, als er vom Glück hörte, das über Machokali gekommen war, beschlossen hätte, es diesem gleichzutun. Da er nicht über ausreichend Geld verfügte, veräußerte er heimlich den Acker seines Vaters und borgte sich den Rest zusammen, um sich ein Flugticket nach Frankreich und ein Krankenhausbett in Paris zu kaufen, wo er sich die Ohren vergrößern ließ, um, wie er in einer Erklärung mitteilte, besser hören und die privatesten Unterhaltungen zwischen Mann und Frau, Kindern und ihren Eltern, Schülern und Lehrern, Priestern und ihren Gemeindemitgliedern, Psychiatern und ihren Patienten belauschen zu können – und dies alles im Dienste des Herrschers. Seine Ohren waren größer als die eines Kaninchens und beständig aufgestellt, um zu jeder Zeit und aus allen Richtungen Gefahren ausmachen zu können. Seine Hingabe blieb nicht unbemerkt. Er wurde Staatsminister und das Ausspionieren der Bevölkerung fiel in seine Zuständigkeit. Damit unterstand ihm die ganze geheime Polizeimaschinerie, bekannt unter der Bezeichnung M5. Und so wurde er wegen seiner großen Ohren zu Silver Sikiokuu und warf seinen früheren Namen über Bord.
Ironischerweise markierte der Erfolg der beiden ehemaligen Parlamentsabgeordneten auch den Beginn ihrer Rivalität: Der eine sah sich als des Herrschers Auge, der andere als des Herrschers Ohr. Unentwegt verglichen die Leute im Stadion ihr unterschiedliches Mienenspiel, vor allem die Bewegungen ihrer Augen und Ohren, denn jeder wusste seit langem, dass sich die beiden einen Kampf auf Leben und Tod lieferten, um endgültig klarzustellen, welcher Körperteil mächtiger war: die Augen oder die Ohren des Herrschers.
Machokali schwor bei seinen Augen: Mögen sie sich gegen mich wenden, wenn ich nicht die Wahrheit sage! Sikiokuu hingegen rief seine Ohren an: Mögen sie meine Zeugen sein, dass alles, was ich sage, der Wahrheit entspricht. Und immer wenn er sie erwähnte, zupfte er sich am Ohrläppchen. Diese Geste, über die Jahre hinweg eingeübt und bis zur Vollendung gebracht, verhalf ihm zu einem winzigen Vorteil in ihrem Kampf um Aufmerksamkeit. Machokali konnte dem nichts entgegensetzen. Schließlich konnte er sich nicht an den Lidern zupfen. So blieb ihm nichts weiter übrig, als die zweitbeste Lösung zu wählen: auf seine Augen zu deuten, um seinen Aussagen mehr Gewicht zu verleihen.
Andere Parlamentsabgeordnete hätten es ihnen wohl gleichgetan und sich, je nachdem welche Dienste sie dem Herrscher leisten wollten, körperlichen Veränderungen unterzogen, wenn sich nicht die Sache mit Benjamin Mambo ereignet hätte. Als jungem Mann war es Mambo versagt geblieben, in die Armee einzutreten, weil er zu klein war. Doch loderte das Feuer für eine militärische
Weitere Kostenlose Bücher