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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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schon gar nicht auf das SIV des Herrschers. Er hatte die Absurditäten der selbstinduzierten Expansion überlebt, der selbstinduzierten Schwangerschaft und alle früheren Anschläge auf sein Leben und war nun maskierten Geistern zum Opfer gefallen. Dass Nyawĩras ehemaliger Chef und Kamĩtĩs Peiniger eine erfolgreiche Palastrevolution durchgeführt hatte, war ziemlich verblüffend, und Kamĩtĩ konnte nicht umhin, sich an den Tag zu erinnern, an dem es Tajirika gelungen war, mit einem Kübel Scheiße aus dem Gefängnis zu entkommen.
    „Scheiße bleibt Scheiße, auch wenn man sie anders nennt“, bemerkte Nyawĩra dazu. „Die Fronten mögen verschwommen sein, aber sie verlaufen immer noch so wie vorher.“

12
    Eines Abends teilte Nyawĩra Kamĩtĩ mit, dass ihn am nächsten Tag zwei Männer abholen und zum Zentralkomitee der Bewegung für die Stimme des Volkes bringen würden, damit er mit eigenen Worten bestätige, Mitglied werden zu wollen. Kamĩtĩ erwartete sie und war dennoch ein wenig schockiert. Seit ihrer Rückkehr aus den Bergen hatte kein anderer Mensch ihre Wohnung betreten, und ihm wurde klar, welch behütetes Leben er mit Nyawĩra geführt hatte, in dem Zeitungen und Radio die einzigen Verbindungen zur Außenwelt gewesen waren. Die beiden Begleiter waren ungefähr in seinem Alter, und sie hätten sich sicher über eine Menge unterhalten können, aber sie sprachen nicht viel, und Kamĩtĩ blieb seinen Gedanken überlassen. Er dachte über sein Leben nach, seit jenem schicksalhaften Tag, als er sich an der städtischen Müllkippe aus seinem Körper gelöst und eine Folge ähnlicher Ereignisse wie seinen Vogelflug durch Raum und Zeit erlebt hatte, der zum Wunder beitrug, zu dem sein Leben geworden war. Er fragte sich, wie schmal die Linie war, die im menschlichen Leben das Wirkliche vom Unwirklichen trennt.
    „Wir sind da“, sagte einer der Männer und schreckte Kamĩtĩ aus seinen Träumereien. Die beiden Begleiter schoben ihn in ein Zimmer, boten ihm einen Stuhl an und gingen hinaus. Allein gelassen, ließ Kamĩtĩ den Blick über die Wände streifen, über Plakate und Zeichnungen von Helden und Heldinnen des antikolonialen Widerstands in Aburĩria und Afrika, die offiziell niemals erwähnt wurden. Dann blieben seine Augen an einer großen Weltkarte hängen, mit Afrika in der Mitte. Auf der Karte befanden sich rote Papierpfeile, die auf Städte zeigten, die schwarz umrandet waren. Er dachte noch über diese Kreise nach, als er im Nil-Delta einen Leuchtpfeil entdeckte. Der Pfeil bewegte sich über die Karte, und wenn er eine Stadt erreichte, begann er zu blinken, als ob er ihn aufforderte, sich den Ort gut zu merken. Das war zu unwirklich, und er stand auf und trat an die Karte, um sich zu vergewissern. Ja, der Pfeil bewegte sich entlang der Route, der er gefolgt war, und blinkte nur an den Orten, die er in seinem Vogel-Ich besucht hatte. Was bedeutete das?
    „Wir versuchen nur, unsere Geschichte zu erkunden“, hörte Kamĩtĩ eine Stimme sagen, und als er sich umdrehte, sah er sich vier Frauen und sechs Männern gegenüber. Einer sprach zu ihm, die anderen schwiegen. „Wir versuchen, unsere Herkunft auszumachen und alle Orte kennenzulernen, an die Schwarze verstreut wurden, von Indien, wo die Siddis wohnen, zu den Fidschis im Pazifik, wo die Leute behaupten, aus Tanganjika zu stammen.“
    „Und was ist mit dem blinkenden Pfeil?“
    „Welcher Pfeil?“, fragte der Mann verwundert.
    Kamĩtĩ schaute wieder auf die Karte und war überrascht, den Leuchtpfeil nicht mehr zu sehen.
    „Oh, ich habe über diese roten Pfeile nachgedacht“, sagte Kamĩtĩ, als wäre die Angelegenheit bedeutungslos.
    „Diese Pfeile zeigen auf die Zentren alter, schwarzer Zivilisationen“, erklärte der Mann. „Dort liegt der Ursprung schwarzer Kraft.“
    Sie setzten sich in einen Halbkreis. Wieder traute Kamĩtĩ seinen Augen nicht. Waren das nicht dieselben, die damals im Schrein gearbeitet hatten? Wie auch immer, dieses Mal behielt er seine Gedanken für sich, für den Fall, dass ihn sein Verstand wieder betrog. Der Mann sagte, dass sie noch auf die Vorsitzende warteten, doch bevor er ausgesprochen hatte – träumte er oder nicht? –, betrat Nyawĩra den Raum.
    „Die Vorsitzende des Zentralkomitees der Bewegung für die Stimme des Volkes und Oberbefehlshaberin des Aburĩrischen Volkswiderstands …“

13
    Die Weggefährten nahmen ihn mit auf eine Reise, eine Reise, in der stärkere Magie steckte als in Marithas

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