Herr der Nacht
werden. Es stellte sich nämlich heraus, daß keine der sieben Töchter Milch hatte, und sie wurde auch gar nicht gebraucht. Denn als die Dienerin sich mit mitleidsvollem Glucksen wieder dem Kind zuwandte, sah sie, daß es bereits gewaltig gewachsen war. Tatsächlich war das Kind in dem Tuch nun ein hübscher Junge von vielleicht elf Jahren. »Ruhig, mein Küken«, rief die Dienerin begütigend, »du wirst dich übernehmen.« Aber ohne Erfolg. In der nächsten Minute war das Kind weiter gewachsen, und noch weiter. Nun lag ein knackiger Jüngling mit pechschwarzem Haar dort, dessen Anblick Schauder des Entzückens auslöste, so daß die alte Dienerin am ganzen Leibe zitterte. Dann war sogar der Jüngling verschwunden. Ein Mann lag auf dem Tuch ausgestreckt. Er schien aus dunklem Licht geschaffen, er glühte vor Schönheit, und sein nackter Körper war wie der eines Gottes, oder, wie sie dachten, der eines Gottes sein sollte, die acht, die von Ehrfurcht ergriffen über ihm zitterten. Sein schlafendes Gesicht verschlug ihnen die Sprache.
Aber plötzlich kroch Fair, die jüngste der sieben Schwestern zum Fenster, und dort im Osten sah sie ein einzelnes erhobenes, gelbes Schwert, das Zeichen für die kommende Sonne. Was sie dazu veranlaßte, wußte sie niemals, aber sie eilte zu dem unglaublichen Mann, kniete sich zu ihm, küßte seinen Mund und flüsterte: »Asrharn, erwache! Die Sonne kehrt zur Erde zurück. Du mußt in dein Königreich zurückkehren.«
Und die Augenlider des Mannes öffneten sich, und zwei dunkle Feuer glühten plötzlich auf zwischen den seidigen Wimpern, und er lächelte und berührte die Lippen von Fair mit seinen kühlen Fingern.
Und dann war er verschwunden.
Doch der Raum war von Schreien erfüllt, während ein schwarzer Adler in den Erdenhimmel aufstieg, auf seinen weiten Flügeln wendete – und spurlos verschwand.
Augenblicke später ging die helle Sonne auf. Aber du kannst sicher sein, daß das Zeitalter der Unschuld vorbei war.
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