Herr der Schlangeninsel
liebt
Goldstücke. Deshalb werde ich — mit Gottes Hilfe — ihm sein Geheimnis entlocken
können. Denn Goldstücke führe ich hinlänglich genügend bei mir; und meine
Kenntnis der griechischen Sprache bewährt sich aufs trefflichste.“
Tim machte eine Pause, was Karl zu der
Bemerkung nutzte: „In unseren Ohren klingt Henkelmairs Text sehr gewunden. Aber
damals drückten sich die besseren Leute so aus. Ich glaube, diese
Tagebuchnotizen sind echt.“
Auch Tim hatte inzwischen seine
ablehnende Haltung gelockert. Henkelmaiers Schatzplan verdiente es offenbar,
daß man sich mit ihm befaßte.
„18. Mai“, las der TKKG-Häuptling
weiter. „Bestürzung weicht mir nicht von der Brust. Ist es unsere Anwesenheit —
oder zieht das Schicksal seine Fäden? Demos, der 108jährige Greis, liegt im
Sterben. Er hat meine Goldstücke benutzt, um sich vom besten Wein ein kleines
Faß kommen zu lassen. Ganz allein soll er es gestern — bei einer Mittagsschwüle
von 44 Grad — geleert haben. Ich muß es niederschreiben: Der Alte hat sich
totgesoffen. Das heißt, noch lebt er, und der Wein scheint letztmals seinen
Verstand freizugeben. Denn soeben schickt der Alte nach mir. Er wünscht mich zu
sprechen. Wird er mir, dem Fremdling, sein Geheimnis anvertrauen — auf der
Schwelle des Todes?“
Tim räusperte sich und fuhr fort: „19.
Mai. Wohlan, ich bin am Ziel. Demos, der Greis, ist hingeschieden während der
Nacht. Doch zur Trauer ist kein Anlaß, denn 108 Jahre sind genug für den
einzelnen. Mehr vom Leben zu verlangen, wäre unbescheiden und kommt auch einem
griechischen Fischer nicht zu. Die letzte Unterredung betreffend, habe ich mich
nicht getäuscht. Doch noch einmal überraschte er mich, der Greis, mit seinem
Sinn für das Wirtschaftliche. Wobei ich erklärend anmerken muß, daß sich elf
seiner Kinder am Sterbebett versammelten: Demetrios, Alexander, Costas,
Despina, Konstantin — und wie sie alle heißen. Es war gespenstisch, zählte doch
der älteste Sohn glatte 90 Jahre, gefolgt vom 86jährigen Bruder und der
Schwester Ariadne im 85. Lebensjahr. Dann freilich tut sich eine zeitliche
Kluft auf. Das vierte Kind wurde erst 49 Jahre nach Ariadne geboren. Sieben
folgten noch, und der Jüngste ist knappe 18 Jahre alt — gleichwohl bei guter
Gesundheit, obschon etwas schmal in der Brust. Diese Kinder alle — von 18 bis
90 — umstanden also das Bett des Sterbenden. Demos deutete mit zitternder Hand
auf sie und befahl mir, jedem — unter seinen Augen — zehn Goldstücke
auszuhändigen. Nachdem das getan, scheuchte er sie mit unwirscher Gebärde
hinaus, wo schon die Klageweiber mit lautem Geheule begannen: einem hier
üblichen, aber sehr an den Nerven zehrenden Brauch. Dann tat der Sterbende mir
kund, was sicherlich eins der größten Geheimnisse dieses Jahrhunderts ist —
obwohl wir erst im neunten Jahre desselben sind.“
„Warum liest du nicht weiter?“
schnappte Klößchen — und verschluckte sich an einem Stück Schokolade.
„Gestatte, daß ich mal Luft hole“,
sagte Tim und füllte die Lungen.
Selbst wenn wir hier, dachte er, nur
eine Seifenblase in der Hand halten — dann ist sie doch schillernd und schön.
Und die Geschichte gut erfunden.
„Waren es Wein oder Todesnähe?“ setzte
Tim die Märchenstunde fort. „Das Gehör des Alten war plötzlich geschärft. Ich
mußte nicht brüllen, um mich ihm mitzuteilen. Daß er nun beruhigt sterben
könne, sagte er, da er seine Kinder versorgt wisse. Zehn Goldstücke sind hier
auf der Insel tatsächlich ein Vermögen. Flüsternd berichtete Demos mir dann,
daß er als Knabe bei dem Piraten Captain Murdock angeheuert habe. Vor nunmehr
96 Jahren, ein Kind von zwölf Jahren erst, Schiffsjunge, sei er, Demos, auf dem
schwarzen Schnellsegler gewesen — und dann, in den späten zwanziger Jahren,
Matrose der Piratenmannschaft. 1829 aber habe er sich von der Mörderbande
losgesagt, sie heimlich verlassen — bei Nacht und Nebel — , denn Abtrünnigkeit
wurde mit dem Tode bestraft. An dieser Stelle des Gesprächs wies mich der Alte
an, einen bunt bemalten, an der Wand stehenden Holzschrank ein Stück in den
Raum zu rücken. Ich tat’s, wobei ich alle Kräfte einsetzen mußte, war doch der
Schrank seit Jahrzehnten nicht bewegt worden und fast mit dem Boden verwachsen.
Auf seiner — des Schrankes — Rückseite fand ich sodann das Geheimnis: eine
genaue Skizze der Insel Tykopulos — eine Skizze von Demos’ Hand, gezeichnet mit
bunter Kreide vor einem halben
Weitere Kostenlose Bücher