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Herr Möslein ist tot (German Edition)

Herr Möslein ist tot (German Edition)

Titel: Herr Möslein ist tot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Meissner
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unsere bereits anwesenden Phonomimik-Kollegen, an Ingo und den Diskotheker stellt, ist: »Habt ihr das auch gemerkt? Es sind so viele Menschen auf Berlins Straßen!« Aber diesmal spricht sie weiter: »Und wisst ihr, warum?« Drei der vier Herren schauen Betty irritiert an.
    »Ist uns auch aufgefallen, aber wir haben keine Ahnung«, erwidert einer der Kollegen desinteressiert und ohne auch nur eine Sekunde aufzublicken. Er sortiert seine Kostüme auf Kleiderständer.
    »Ich sag’s euch: Weil die Grenzen offen sind! Wir können rüber, jetzt … sofort!« Bettys Stimme überschlägt sich, und Ingo stößt einen Tarzanschrei aus. »Uaaaaaaaah!« Ein Phonomimiker lässt vor Schreck die Wimpern fallen, die er sich gerade aufkleben wollte, der andere springt auf, und der Kleiderständer stürzt um. Ingo hebt ihn wieder auf und fragt aufgeregt: »Was meint ihr, sind überhaupt Leute in der Bar oder sind alle schon in Westberlin?« Ingo ist total zappelig und rennt Richtung Bühne.
    Nur eine Minute später kommt er enttäuscht wieder zurück: »Es sind zehn Gäste da. Wir müssen spielen!« Ich habe es nicht anders erwartet. Hier ist alles so wie immer. Als ob nichts passiert wäre.
    »Ähm, vielleicht sollte ich den Menschen in der Bar sagen, dass die Grenze offen ist?«, fragt plötzlich unser DJ . Wir finden seine Idee sensationell und drängeln uns hinter den Vorhang, um einen Blick auf die Gäste der Bar, die beiden Kellner und den auf der Bühne zum Mikro greifenden DJ zu erhaschen.
    Der DJ hüstelt. »Meine sehr verehrten Damen und Herren. Soeben wurde bekannt gegeben, dass die DDR 28 Jahre nach dem Bau der Mauer und nach 120 000 in den letzten Monaten geflüchteten Bürgern … also, dass …« D ie Stimme des DJ s bricht. Er atmet tief durch und verkündet dann: »Jedenfalls, die Mauer ist offen! Für jeden!« Die Gäste in der Bar reagieren weder mit Jubel noch mit Applaus. Träge, wie aus dem Winterschlaf geweckte Bären blinzeln sie dumpf in die bunten Disco-Scheinwerfer. Unglaublich, wenn man bedenkt, dass sich solche Nachrichten im nächsten Jahrtausend nicht nur wie ein Lauffeuer via Twitter, Facebook und Smartphone verbreitet hätten, sondern auch von jedem geglaubt und weitergeleitet würden. Hier in der Vorwende- DDR dagegen glaubt man weder den Zeitungen noch der »Aktuellen Kamera« und erst recht nicht einem unbekannten DJ . Vielleicht sind die Bargäste auch in einer J.R.-Schockstarre oder so gerührt wie Betty, die mit den Tränen kämpft. Alle bleiben sitzen. Bis auf einen einzelnen Herrn. Der springt auf und verlässt hastig den Raum. Wahrscheinlich versucht er, Kontakt zu seinem Führungsoffizier aufzunehmen. Die Kellner eilen an die Tische und nehmen Bestellungen auf, als ob nichts passiert wäre. DJ legt eine neue Platte auf und spielt doch tatsächlich David Hasselhoffs Song »Looking For Freedom«.
    In der Künstlergarderobe herrscht bedrückte Stille. »Wisst ihr, wir sind doch Profis. Es ist schon gut, wenn wir heute auftreten. Immerhin bekommen wir dafür Geld. Das sollten wir uns nicht entgehen lassen. Man weiß ja nicht, was kommt!«, beschwichtige ich meine Kollegen.
    Genau um 23.45 Uhr ist unsere Show endlich vorbei, und ich packe so schnell wie möglich meine Kostüme zusammen. Ingo steht plötzlich hinter mir und fragt: »Sag mal, Tati, fährst du jetzt rüber? Nimmst du mich mit?« Natürlich will ich das nicht, kann aber nicht nein sagen. Ich dachte immer, ich hätte mir diese Fähigkeit in meinem fünfzigjährigen Leben antrainiert. Ingo reicht mir meine Feuerschalen und guckt mich mit seinen dunkelbraunen Augen bittend an. Wie Chica, wenn sie schmusen will. Betty, immer verständnisvoll, springt Ingo zur Seite. »Mensch, Tati, wenn du mich auch noch mitnimmst, dann stören wir dich gar nicht bei deinem Treffen mit Carsten. Ich kann mit Ingo Spaß haben, und wir können dich in den Goldenen Apfel führen, damit du nicht wieder hinfällst.« Eigentlich müsste ich ob dieser Spitzfindigkeit sauer sein. Bin ich aber nicht. An so einem Tag kann ich weder sauer sein noch nein sagen.
    Pünktlich um null Uhr verabschieden wir uns von den Kollegen und fahren zu dritt Richtung Invalidenstraße. Auf allen Straßen Berlins sind Menschen unterwegs: Junge, Alte, Kinder, Familien. Wir biegen von der Chaussee- in die Invalidenstraße, und mit uns strömen unfassbar viele Menschen und Autos wie ein Tsunami zum Grenzübergang. Die Straße droht aus allen Nähten zu platzen. Unter dem Motto: »Wo

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