Herr Tourette und ich
kauen. Ich gehe in den Keller und setze mich ganz hinten im Kellerflur in die Ecke. Da habe ich Ruhe. Das Einzige, was ich höre, ist der gedämpfte Laut vom Ventilator im Werkraum. Das ist ein schönes Geräusch, ruhespendend, wie ein behaglicher 747-Flug über den Atlantik – Zucken im Bauch, kleines Geräusch .
Dann setze ich den Schultag fort.
Die Tage fliehen dahin, die Wochen vergehen, bald ist wieder Weihnachten. Die Empfindsamkeit verläuft in Wellen. Manche Tage sind intensiver als andere, aber es gibt auch Monate, in denen alles ruhig ist und die Konzentration auch dabei ist, wenn ich es will.
Ich rede häufiger, murmele still vor mich hin, summe. Vielleicht als Ablenkungsmanöver, vielleicht weil alles immer schlimmer zu werden scheint. Ich weiß nicht, was im Kopf passiert, denke nicht so viel über den Zustand nach, was die anderen aber auch nicht zu tun scheinen. Ich versuche so gut es geht, ein Gleichgewicht zwischen Boeing 747, Notritual und Gartentorritual herzustellen und es außerdem noch mit ein paar Portionen Walfängerarbeit zwischen den Wellen zu schaffen. Das Ganze flutscht, ich leide nicht, verspüre kein Unbehagen, jedenfalls nicht wie im Frühling, als ich die Rituale erfand. Momentan übernimmt der Impuls immer mehr das Steuer, was mir auch Vorteile verschafft. So mache ich zum Beispiel große Fortschritte im Sport. Wofür ich vor einem Jahr noch hart arbeiten musste, das funktioniert jetzt ohne größere Anstrengung. Als habe der Impuls die Ungelenkigkeit knockout geschlagen. Mein Sportlehrer redet auch ganz anders mit mir als noch vor einem Jahr. Da hieß es noch: »Jetzt komm schon, gib Stoff, etwas mehr Spiel.« Jetzt heißt es: »Ja, das genügt, beruhige dich, spiel den Ball.«
Im Sport bin ich immer dieselbe Person mit derselben Stimme: Wayne Gretzky, der Basketball spielt, Wayne Gretzky, der Fußball spielt, Wayne Gretzky, der Hockey spielt, Wayne Gretzky, der sechzig Meter läuft, Wayne Gretzky, der duschen soll, Wayne Gretzky, der findet, dass der Hintern des Sportlehrers exakt so aussieht wie der seiner großen Schwester. Da antwortet der Sportlehrer sehr bestimmt, dass es eine Grenze gibt und ich nicht alles sagen darf.
»Bitte keine derartigen Kommentare«, sagt er und hebt auf diese etwas ungelenke und ernste Weise die Augenbrauen. Ich antworte, ohne nachzudenken: »Das bin nicht ich, der findet, dass Ihr Hintern aussieht wie der meiner großen Schwester, sondern Wayne Gretzky.«
»Das ist nicht witzig«, erwidert der Sportlehrer, ohne mich anzuschauen.
Zu Hause am Esstisch erkläre ich, dass nicht ich das war, der gesagt hat, dass der Hintern des Sportlehrers aussieht wie der meiner großen Schwester, sondern …
Die große Schwester packt mich am einen Ohr, boxt mich in den Holzkeller und schreit so laut, dass die Sägespäne herumfliegen:
»Ich habe keinen verdammten Sportlehrerhintern.«
Ich schreie zurück:
»Das habe nicht ich gesagt …«
Die große Schwester schließt die Tür ab und ist weg, ehe ich den Satz beenden kann:
»… sondern Wayne Gretzky.«
Es passiert einfach (Taktile Stimulanz)
Ich verspüre ein sehr starkes Bedürfnis, Sachen in die Hand zu nehmen, anzufassen, zu berühren. Dann werde ich ruhig, es entstresst mich, die Impulse verschwinden.
Sachen, die man nehmen kann – Schmuck, Leder, Gummi. Und das Bedürfnis kommt, wenn ich es am wenigsten erwarte und wenn ich es vor allem nicht tun sollte.
Ich versuche es bleiben zu lassen, aber da ist das Gefühl, als würde etwas im Körper überkochen.
Ich habe nicht die geringste Chance, es nicht zu tun.
Die Langeweile muss befriedigt werden. Sonst kocht sie über. Die Langeweile kommt von Unruhe, Wiederholung, Routine. Das Zucken im Bauch bekämpft die Routine mittels Aktion. Also zuckt es … und dann passieren die Dinge einfach. Ich will nicht stehlen, ich will nur das Material befühlen. Es sind Gefühl + Duft + Material, worauf ich scharf bin. Nichts anderes.
Das geschieht nicht oft, vielleicht zweimal in doppelt so vielen Jahren. Aber natürlich provoziert es, wenn es geschieht. Es ist nur menschlich, wütend zu werden, wenn jemand versucht, einem den Geldbeutel oder ein Schmuckstück wegzunehmen. Nicht wegnehmen, sondern nur anfassen. Das ist der Unterschied zwischen einem verrückten Dieb und taktiler Stimulanz. So einfach? Ja. Und nein. Denn es sieht ja so aus, als würde der Junge den Geldbeutel oder den Schmuck nehmen, er lacht absichtlich, neckt uns, und das
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