Herr Tourette und ich
Harpunier
Ein piepsendes Geräusch, wie der Alarm einer Behindertentoilette.
Der erste Harpunier stellt die Kaffeetasse ab, geht an Deck, packt die Strickleiter, ganz locker. Der erste Harpunier steigt konzentriert und entspannt die Leiter hinauf, Zentimeter für Zentimeter, Meter um Meter. Fünfzehn Meter später klettert er in den Ausguck. Er richtet die Harpune auf das graue Meer, dann auf den graublauen Wal, der in einer Art Ruhezustand auf dem Rücken liegt. Der erste Harpunier weiß ganz genau, an welcher Stelle der Pfeil in den gediegenen Walkörper eindringen muss. Der erste Harpunier weiß, dass es darauf ankommt, mitten in die linke Herzkammer zu treffen, ohne das Fleisch, den Speck oder den Tran zu beschädigen. Eine falsch gezielte Harpune kann dazu führen, dass der Walkörper zu nichts zu gebrauchen ist, ein Wal, auf dem nicht mal mehr die Katzen herumkauen wollen. Der erste Harpunier kennt die Fallen, und er vermeidet sie. Er spürt die Erwartungen und entscheidet sich, die Erwartungen nicht zu spüren. Stattdessen fühlt er den Kaffee, der immer noch in seinem Mund ist. Das Kaffeekörnchen, auf dem er kaut, erinnert an Kautabak, nur besser. Der erste Harpunier hat ruhige Hände, gelassene Finger. Poff . Direkt ins Herz. Poff. Poff . Zwei Schüsse später treibt der Wal an der Oberfläche, in seinem eigenen Blut, in seinem eigenen Atlantik badend, in seinem eigenen Swimmingpool. Alle jubeln, nur der erste Harpunier nicht. Der hat bereits begonnen, die Harpune auf das nächste Walopfer auszurichten. Der erste Harpunier legt eine neue Spitze in die Harpune ein, füllt sie mit der richtigen Menge Dynamit und Betäubungsmittel, hält die Harpune in die Luft, justiert das Zielfernrohr, yes Sir . Zwanzig Sekunden später steht er entspannt an Backbord und kratzt sich mehrmals im Nacken. Die Besatzung schlägt ihm anerkennend auf den Rücken, Hurrarufe, eilige Witze, schlechte Witze. Jetzt erwidert der erste Harpunier das Lächeln, doch sein Mund bleibt geschlossen. Dann trinkt er weiter aus seiner Tasse, in der der Kaffee noch nicht kalt werden konnte. Er lehnt sich zurück, wartet auf den nächsten Wal. Bald. Jederzeit. Jederzeit kann das Piepsen ertönen, als wäre er mit einer Kaffeetasse in der Hand auf einer Behindertentoilette eingeschlossen.
Man erzählt sich, dass die Harpune von Simen einmal direkt durch das Herz des Blauwals drang, durch Leber und Speck, auf der anderen Seite des Körper herauskam und den Kopf eines Heilbutts mit hundertfünfzig Kilo Übergewicht aufspießte, der sich unglücklicherweise gerade unter dem Bauch des Blauwals versteckt hielt. Es heißt, Simen sei der Einzige, der jemals ein Doppel erlegte – zwei Tiefseeriesen mit einem Schuss.
Abgesehen von dem Erlebnis, mitten im Winter den halben Atlantik ins Gesicht geschmissen zu kriegen und das Gefühl zu haben, dass man etwas Wirkliches tut, abgesehen von dem Kick des Schießens selbst und der Möglichkeit, ein Doppel zu erlegen, hängt mein Wunsch, erster Harpunier werden zu dürfen, sehr stark mit dem Gerücht zusammen, das besagt, alle Walfänger hätten viel Geld, große Autos und ein Schwimmbad im Garten. Dabei ist es völlig unerheblich, dass es an dreihundertsechzig Tagen im Jahr zu kalt zum Baden ist, nein, schon der Gedanke an ein Schwimmbecken im Garten ist das Zeichen für ewigen Erfolg. Simen sagt nicht einmal Schwimmbecken, er sagt Swimmingpool. Californian Swimmingpool. Es heißt, die Swimmingpools würden einmal im Jahr mit dem Schiff von Baltimore gebracht, und man müsse mindestens zwei Jahre im Voraus bestellen. So einen Swimmingpool will ich auch haben. Da kann ich auf dem Rücken im Pool liegen, zu den Flugzeugen hinaufschauen und einfach untertauchen, wenn die anstrengenden Gedanken aufkommen. Aber dann muss ich erst werden, was Simen ist – erster Harpunier. Oder Sportkommentator. Zwischen diesen beiden Berufen muss ich mich entscheiden. Und dann ist da noch das mit den Piloten. Klar, auch interessant. Aber Piloten haben, was der erste Harpunier nicht hat: frisch gebügelte Hosen, geputzte Schuhe, Uniformen, Dauerlächeln. Kurz gesagt: Sie sind mädchenhaft. Walfänger sind unrasiert, gehen in Ölzeug und sehen aus wie Gene Hackman. Genau. Ich will erster Harpunier werden.
»Erster Harpunier?«, höre ich Papas Stimme hinter der Lokalzeitung.
»Wie kann ich erster Harpunier werden?«
Papa lässt die Zeitung auf den Bauch sinken. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, sondern nur zwei blitzende
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