Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
PROLOG
Sieben Jahre zuvor …
Aus den dicken Steinmauern des Kerkers von Lebec sickerte grundsätzlich eine Atmosphäre trostloser Verzweiflung, was diesen Tag höchst ungewöhnlich machte. Denn zum ersten Mal seit Monaten verspürte Bary Morel Hoffnung. Er hastete hinter dem Wächter her, der ihn zur Schreibstube des Kerkermeisters eskortierte, erfüllt von einer Empfindung, die er schon unwiderruflich verloren geglaubt hatte. Sie widersprach allem, was ihm widerfahren war, seit man vor einigen Monaten sein Haus durchsucht und ihn dabei erwischt hatte, dass er in seinem Keller eine entlaufene Felide ärztlich versorgte. Doch nun war plötzlich, wie aus dem Nichts, ein Hoffnungsschimmer aufgetaucht. Der Fürst von Lebec war hier und wollte ihn sprechen. Morel konnte sich nicht erklären, warum ein so mächtiger Mann sich die Zeit nahm, einen überführten Gesetzesbrecher aufzusuchen. Zugegeben, einst hatte er sich einer gewissen unbedeutenden Beziehung zur Fürstenfamilie erfreut. Als der jetzige Fürst noch ein kleiner Junge gewesen war, hatte Morel ab und zu im Palast ärztliche Hilfe geleistet, wenn der Leibarzt des alten Fürsten gerade nicht in der Stadt weilte. Aber inzwischen hatte er Stellan Desean schon lange nicht mehr gesehen. Zuletzt, als man ihn vor Jahren einmal in den Palast rief um einen jungen Mann zu behandeln – einen Freund des jungen Fürsten, der an einer Lebensmittelvergiftung fast gestorben wäre.
Bary konnte sich beim besten Willen keinen Grund vorstellen, warum Stellan Desean ihn besuchen sollte. Er wusste lediglich, dass er jetzt da war – und das konnte eigentlich nur Gutes bedeuten. Denn Fürsten machten sich im Allgemeinen nicht die Mühe, schlechte Nachrichten persönlich zu überbringen, das überließen sie ihren Untergebenen.
Vielleicht war es Arkady gelungen, eine Audienz zu ergattern. Bei ihrem letzten Besuch hatte sie versprochen, es zu versuchen, obwohl er ihr von einem solch dreisten Unterfangen dringend abriet. Aber realistisch betrachtet gab es sonst nichts, was Arkady überhaupt noch tun konnte. Inzwischen waren sie praktisch am Bettelstab. Sie konnten sich nicht einmal mehr den dürftigsten Rechtsbeistand leisten, um vielleicht ein Berufungsverfahren einzuleiten. Und selbst wenn, es bestand ja nicht die geringste Chance auf einen Freispruch – nicht beim Kaliber des Hauptbelastungszeugen, der vor Gericht gegen ihn auftrat.
Für einen Augenblick blieb Bary stehen und hielt sich an der Wand fest, seine Lungen verkrampften sich schmerzhaft. Der Wächter hörte ihn husten und sah sich um.
»Alles in Ordnung?«
»Es geht schon … gebt mir bloß einen Augenblick … muss nur eben zu Atem kommen …«
Der Mann wartete, bis Bary sich so weit erholt hatte, dass es weiterging. Als der alte Arzt sich von der Wand abstieß, nahmen sie den Gang zur Schreibstube des Kerkermeisters wieder auf, wenn auch in deutlich gemäßigtem Tempo.
Der Kerkermeister war nicht in seiner Schreibstube, als sie dort ankamen. Offenbar hatte er sie an den Fürsten abgetreten. Stellan Desean, gegen die Kälte in einen pelzgefutterten Mantel gehüllt, stand am Fenster und starrte hinaus in den Regen, der in Bächen die Scheibe hinunter rann und leise gegen die Mauern trommelte. Als Bary eintrat, drehte er sich um und gab dem Wächter ein Zeichen, draußen zu warten.
»Doktor Morel.«
»Euer Gnaden.«
Stellan lächelte. »Bitte, setzt Euch. Ihr seht aus, als hättet Ihr es nötig.«
Bary tat wie geheißen und nahm dankbar auf dem Besucherstuhl vor dem Schreibtisch Platz. Noch einmal hustete er in sein blutbeflecktes Taschentuch, dann richtete er die Aufmerksamkeit ganz auf seinen Besucher. Der runzelte bei den rasselnden Geräuschen aus seinem Brustkorb die Stirn.
»Wie ich sehe, hat Eure Tochter mit Eurem Gesundheitszustand nicht übertrieben«, bemerkte Stellan und musterte ihn prüfend.
»Sie hat es also geschafft, eine Audienz bei Euch zu bekommen?«, erwiderte Bary. »Ich nehme an, darum seid Ihr hier?«
Stellan nickte und setzte sich in den mächtigen, abgewetzten Ledersessel des Kerkermeisters. »Das als Audienz zu bezeichnen ist allerdings grob verharmlosend. Wenn Ihr schon danach fragt: Sie hat es irgendwie fertiggebracht, an sämtlichen Posten vorbeizustürmen, die ich eigens zu dem Zweck aufgestellt habe, solche Vorkommnisse zu verhindern. Dann ist sie in heller Empörung bei mir hereingerauscht und hat mir eine gesalzene Standpauke verabreicht, weil ich dulde, dass Ihr hier im
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