Herrentier
Sie mich?« Er nahm das Telefon vom Ohr, doch im Dunkeln war das Display nur schwer zu erkennen. Er hielt es in Richtung Laterne.
Der Akku war leer.
Das Häuschen, in dem tagsüber die Kassiererinnen saßen, wirkte verlassen. Gregors Magen krampfte sich zusammen. Er hatte nicht bedacht, dass der Einlass schon zwei Stunden vor Schließung des Zoos endete. Panik stieg in ihm auf. Was sollte er tun? Hinter der schweren Gitterdrehtür konnte er niemanden erkennen. Wie eine Raubkatze schlich er den Metallzaun entlang, der oben gegen Eindringlinge scharf gezackt war. Kalt war es geworden. Aus dem Mund dampfend, spähte er in das Innere. Bollerwagen waren dort aufgereiht, aber weder Gäste noch Zooangestellte waren zu sehen. Sein Blick fiel auf eine mobile Werbetafel, die auf die anstehende Winterzeit im Zoo aufmerksam machte. Das Gestell war leicht, doch möglicherweise stabil genug, um sein Gewicht für einen Moment tragen zu können. Er kippte den Aufsteller auf die Seite, erreichte mit einem Schritt darauf das Fensterbrett des Kassenhäuschens und gelangte mit einem mühsamen Klimmzug auf dessen Dach. Von dort ließ er sich bäuchlings rutschend wieder herab. Was machte er hier bloß? Er hatte keine Ahnung, wie er sich verhalten würde, wenn plötzlich Professor Kramer vor ihm stehen würde. Doch alle misslichen Szenarien verdrängte er erst einmal. Getrieben von der Verzweiflung irgendetwas tun zu müssen, rannte er den Weg hoch, vorbei an den Fischottern, die die Besucher immer im Wasser suchten, obgleich sie meist im Geäst der angrenzenden Bäume saßen. Vor der Gabelung, an der links das Seehundebecken und rechts die große Vogelvoliere lagen, führte ein Weg hoch zum Darwineum . Gregor dachte an die Zoobesuche mit seinen Töchtern. Sein Herz krampfte bei dem Gedanken an seine Familie. Um ihretwillen spürte er Angst, ihm könne etwas zustoßen.
Von dieser Stelle aus ließ sich noch nicht erahnen, welch gewaltiger Bau sich in unmittelbarer Nähe hinter einem langen Bretterzaun inmitten von hohen Jahrhunderte alten Buchen verbarg. Gregors Schritte verlangsamten sich, er wollte aufmerksam sein und musste überlegen. Während er die Kamele passierte, überholte er zwei Frauen, die Kinderwagen schoben. Gregor betrat die Rotunde, den Eingangstrakt, in dem die Evolutionsgeschichte erzählt wurde. Im Zentrum des runden Raumes befand sich ein ebenfalls kreisförmiger, gewaltiger Touchscreen, über den sich gerade ein Besucherpärchen lehnte. Offenbar war hier alles ruhig. Die wenigen Menschen, die sich jetzt noch hier befanden, wirkten entspannt und inspizierten den mächtigen Zeitstrahl, der an jene Anzeigetafel in der Frankfurter Börse erinnerte, die er aus den Nachrichten kannte. Acht Ausgänge führten in anliegende Ausstellungsräume, die er sich nun nacheinander vornahm. Von Blitzen unterbrochene Dunkelheit. Der Urknall. Keine Spur von Evelyn und Jeanette. Im nächsten Raum schrak er zusammen, als ihn seitlich ein an die Wand projizierter Flugsaurier überholte. Ein tunnelartiger Gang führte ihn wie aus dunklen Katakomben in die helle Tropenhalle. Die Luft war feucht, durchdrungen von pflanzlichen und tierischen Ausdünstungen. Gregor sah unter einem überdimensionalen, steinernen Baumstamm, der sich quer über den Besucherweg legte, einen Schatten verschwinden. Gregor hielt sich möglichst weit rechts, um nicht gleich entdeckt zu werden. Mit einer Hand tastete er sich am Stein entlang. Er spürte, wie ihn langsam der Mut verließ. Während er langsam um die Ecke schaute, schlug sein Herz bis zum Hals. Wieder schrak er zurück, als Vögel unmittelbar an ihm vorbeijagten. Niemand war zu sehen. Er warf einen Blick durch den Gang, der links nach draußen führte, auch hier schien alles menschenleer. In gerader Linie führte eine schmale Treppe hoch zu einer Aussichtsplattform, die an eine Dschungelhütte erinnerte. Wie in einem engen Turm wanden sich die Stufen nach oben. Als er Schritte auf dem hölzernen Podest knarren hörte, zögerte er. »Frau Hammer?« Seine Frage ging im Gelächter der Zwergaffen unter. Er betrat die Stufen, eine Hand am Geländer, den Blick nach oben gerichtet, als erwarte er jeden Moment umkehren zu müssen.
»Gregor?«, rief jemand von oben.
Ein Schrei entfuhr ihm. Er hatte Jeanette nicht gleich gesehen. Fast wäre er ihr in die Arme gefallen.
»Oh Gott, hast du mich erschreckt. Was machst du hier?«, fragte er erleichtert.
»Ich suche Evelyn, sie ist nirgends zu finden. Man kann
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