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Herrentier

Herrentier

Titel: Herrentier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Joseph
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Fenster. Blick auf den gegenüberliegenden Wohnblock. Ein grüner Hinterhof.
    »Und mit ihrem Studium hat sie auch alles richtig gemacht. Ende der Achtziger hatte sie Lateinamerikawissenschaften begonnen. Das war etwas Besonderes damals. Aber mit der Wende hat sich alles verändert. Da war das Studium plötzlich nichts mehr wert und sie hat umgesattelt.«
    »Worauf denn?« fragte Gregor.
    »Betriebswirtschaft. Ic› erinnere mich wie heute. ‚Ökonomie ist das Einzige, ‹as jetzt noch zählt, Papa.’ Das hat sie zu mir gesagt. Ökonomie und Politik. Recht hatte sie.«
    Gregor wurde unbehaglich. »Und dann?«, fragte er etwas uninspiriert.
    »Dann zog sie in die Welt. Reisen, das wollte sie schon immer. Und damit hat sie noch immer den richtigen Riecher, die Kleine. Wir haben ja hier viel zu lange nur nach Osten geguckt. In der Wende haben wir dann gemerkt: Die Zukunft liegt im Westen.«
    »Ihre Tochter ist«, Gregor stürzte den letzten Rest Wasser herunter, »verreist?«
    »Sag ich doch. Amerika.«
    »Und heute?«, fragte Gregor zögernd.
    »Sie arbeitet dort in einem Institut. Hab sie lange nicht gesehen. Fragen Sie meine Frau, wenn Sie es ganz genau wissen wollen.« Er stand auf, räumte das leere Glas ab und verschwand in der Küche. Gregor stand unschlüssig auf und steckte sein Schreibzeug wieder in seine Umhängetasche. Der alte Mann kam zurück.
    »Also ich …«, begann Gregor.
    »Richtig«, unterbrach ihn der Herr Schröder. »Sie wollen bestimmt ihr Zimmer sehen. Kommen Sie.« Gregor folgte ihm. Der alte Mann öffnete eine Tür am Ende des dunklen Korridors, und Gregor fand sich in einem Mädchenzimmer wieder, in dem die Zeit stehengeblieben war. Vor mehr als zwanzig Jahren. Ein Bett mit Plüschtieren, ein Schreibtisch, Lehrbücher und Lexika auf einem kleinen Regal darüber. Eine traurige Mischung aus Kinderkram und Erwachsenenwelt. Kitsch und Wissenschaft.
    Gregor drehte sich unschlüssig im Zimmer. Alles war ordentlich. Sogar die Zettel an der Pinnwand hingen akkurat, ohne einander zu überlappen. Er trat an das kleine Korkbrettchen heran. Eine Konzertkarte von 1991. Herbert Grönemeyer auf dem Kastanienplatz, ausgerechnet im Barnstorfer Wald, dachte Gregor, nicht weit entfernt vom Zoo. Daneben so etwas wie ein Liebesbrief. Jedenfalls waren Herzchen mit Kugelschreiber auf das Briefpapier gemalt worden. Gregor hielt den Kopf schräg, um den Brief lesen zu können. Oder zumindest das Ende, denn das Blatt war gefaltet, die Anrede war verdeckt, nur der Schluss des kurzen Texts war zu sehen. »Ich freue mich auf dich«, stand da. »Ich liebe dich, für immer. Jan-Hendrik«
    Tatsächlich ein Liebesbrief, stellte Gregor fest. Dann durchfuhr es ihn.
    »Jan-Hendrik?«, sagte Gregor halblaut. Der alte Mann hatte es gehört und lächelte.
    »Ja, der Jan, das war Manuelas große Liebe damals«, sagte er.
    »Waren die beiden lange zusammen?« In Gregor verkrampfte sich alles.
    »Na so ein, zwei Jahre werden es gewesen sein. Ein tüchtiger Junge war das. Höflich und fleißig. Der war damals Assistent an der Universität, wo Manuela studiert hat.«
    »Jan-Hendrik Kramer?«
    »Sag ich doch. Der Jan hat ihr viel geholfen, als sie das Studium gewechselt hat. Aber dann war es aus mit den beiden.«
    »Wann war denn das, wissen Sie das noch?«, fragte Gregor atemlos.
    »Kurz bevor sie nach Amerika ging. Ihren Traum verwirklichen. Auswandern. Das machen ja auch heute viele.«
    »Das glaube ich ja wohl nicht«, erscholl eine barsche Stimme vom Flur. Schritte näherten sich, dann erschien eine Frau im Türrahmen. Mitte sechzig, schätzte Gregor. Das war wohl Frau Schröder. Manuelas Mutter. »Ist Ihnen gar nichts heilig?«
    »Anita, der junge Mann wollte doch nur mal Manuelas Zimmer sehen«, beschwichtigte sie der Alte. Dann wandte er sich an Gregor: »Nicht wahr, Sie sind doch ein alter Freund von unserer Manuela?«
    »Eigentlich bin ich von der Zeitung, aber das habe ich doch gesagt.«
    »Siehst du, von der Zeitung«, sagte der alte Mann lächelnd. »Manuela ist doch, wie sagt man heute, ein Medienstar.«
    Frau Schröder packte Gregor am Arm, zog ihn in den Flur und schob ihn Richtung Ausgangstür.
    »Dass Sie sich nicht schämen«, zischte sie. »Einen alten Mann so auszunutzen. Lassen Sie sich hier nie wieder blicken!«
    Gregor war wie vor den Kopf gestoßen. Wie in Zeitlupe verließ er das Haus, schloss sein Fahrrad auf, setzte sich mechanisch auf den Sattel. Dann stieg er hastig wieder ab und holte sein Telefon aus

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