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Herrentier

Herrentier

Titel: Herrentier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Joseph
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Möbel standen hier wie unfreundliche Tiere. Massiv und rustikal. Landhausstil mitten in der Innenstadt. Ein großer Esstisch, daran sechs Stühle mit hohen Lehnen. Naturholz. Schwer und unpraktisch. Nur ihre alte Couch mochte sie noch. Grüner Samt, schon ein wenig abgeschabt. Die Couch war ihr Möbelstück. Den Rest hatte Holger ausgesucht, damals, als sie in den frühen Neunzigern langsam zu Geld gekommen und wie bewusstlos durch die riesigen Möbelhäuser getaumelt waren. Mobiliar für die Ewigkeit, hatte Holger gesagt. In den Hallen wirkten die Ungetüme zierlich. Sobald sie in der Wohnung standen, nahmen sie den Zimmern jeden Charme. Und jedes Licht. Kurz danach zog Holger nach Leipzig.
    Evelyn wählte seine Nummer. Wozu hatte sie einen Ehemann? Der musste sie jetzt retten. Auch aus 400 Kilometern Entfernung, auch wenn sie sich versprochen hatten, den anderen nicht zur telefonischen Gefühlsablage zu machen.
    »Evelyn«, sagte Holger am anderen Ende, nachdem ungefähr zehnmal das Freizeichen ertönt war und sie schon fast wieder aufgelegt hatte. Seine Stimme klang weder ärgerlich noch erfreut. Eher so, als hätte er auf der Straße eine alte Bekannte wiedergetroffen.
    »Ich wollte mal wieder mit dir reden«, sagte Evelyn mit leicht wackeliger Stimme.
    »Du hörst dich nicht gut an, ist etwas passiert?«
    Evelyn erzählte von dem Brand und von der Verhaftung vor den Augen der Presse und Schaulustigen. Von dem Kollegen, der in den Flammen umgekommen war. Holger konnte sich sogar dunkel an Roberto erinnern.
    »Das war doch dieser kauzige Single-Typ. Für welche Tiere war er zuständig? Meerschweinchen?«
    »Vögel«, sagte Evelyn. »Er hat die große Voliere geplant und mit aufgebaut. Und er hatte Familie.«
    »Tragisch«, meinte Holger, schon wieder etwas abwesend. »Sieh es doch mal so: Der Täter ist gefasst, und du bist nicht mehr in Gefahr. Ruh dich aus.«
    Evelyn wollte ihm antworten, dass sie genau das vorhatte und für den nächsten Tag alle Termine abgesagt hatte. Aber sie hörte, wie er mit der Hand sein Telefon abdeckte, während er mit jemandem sprach. Sie hörte die Stimmen wie durch das Rauschen einer exotischen Muschel. Dann wurde die Akustik klar, er hatte das Gerät wieder am Ohr.
    »Entschuldige bitte, wenn ich kurz angebunden bin, ich muss gleich zurück ins Konsil, ich bin mitten in der Sprechstunde.«
    »So spät noch?«, fragte Evelyn resigniert.
    »Ich habe nur abends Zeit, um die wirklich spektakulären Fälle ausfindig zu machen.« Jetzt sprudelte es nur so aus ihm heraus. »Du glaubst nicht, was mir hier begegnet. Vorhin hatte ich eine alte Dame mit Hüftfraktur. Der klassische Sturz über die Teppichkante. Dabei hat sie sich auch noch den Arm lädiert. Aber sie war doch schon recht betagt, also haben die Kollegen mich da›ugeholt. Ich sage zu ihr: ‚Sie bekommen von uns einen Spezialnagel ins Handgelenk, damit we‹den Sie hundert J›hre alt.’ Und sie darauf: ‚Hundert bin i‹h doch schon, junger Mann!’ Kannst du dir das vorstellen?«
    »Ich kann mir gerade ziemlich viel vorstellen«, brachte Evelyn hervor, als sein Kichern abgeebbt war. Das war Holgers Art. Nicht richtig zuhören, aber immer eine heitere Geschichte parat.
    »Ich merke schon, ich hol dich heute nicht mehr aus deinem Stimmungstief«, sagte Holger versöhnlich. »Evi, in zwei Wochen komme ich nach Rostock, dann kannst du mir alles in Ruhe erzählen.«
    »In zwei Wochen? Wer weiß, wie viele Tote es bis dahin noch gibt!«
    »Nun ja, umso mehr hast du mir zu erzählen. Ich richte mich also auf ein längeres Gespräch ein.« Jemand redete leise, aber unmissverständlich auf Holger ein. »Evelyn, tut mir leid, ich muss jetzt wieder in die Sprechstunde. Ich liebe dich.«
    Sie sprach ihren Abschiedsgruß dumpf in die gekappte Leitung, aber Holger konnte schon nicht mehr hören, dass sie, anders als sonst, seine Liebesbekundung nicht erwiderte.

    Evelyn wusste, dass jemand im Raum war. Sie sah nichts, sie hörte nichts. Sie wusste es. Es gibt so etwas wie einen siebten Sinn. Ein vegetatives Lauschen, das Menschen Botschaften annehmen und Wahrnehmungen machen lässt, lange bevor sich Rationalität und Wachheit einschalten. Man glaubt, in der Menge einen bestimmten Menschen zu sehen – und sieht ihn kurz danach tatsächlich. Man weiß von einem Anruf, noch bevor das Telefon klingelt. Man kann das Gras wachsen hören. Ein wissender Dämmerzustand, eine Sensibilität der Kreatur, aus dem Tierreich ererbt.
    Der

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