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Herrentier

Herrentier

Titel: Herrentier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Joseph
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Gut und böse, dachte Gregor und drehte mit der Spitze seines Kugelschreibers den Schädel wieder zurück in seine ursprüngliche Position. Wahr und falsch. Dass diese junge Frau, heute wäre sie nur wenig älter als er selber, das Leben verlieren musste, war definitiv falsch.

    Vor der Pathologie sah Gregor auf die Uhr. Der Termin hatte weniger lang gedauert als erwartet. Er war versucht, der Innenstadt einen kleinen Besuch abzustatten. Aber in der Innentasche seiner Jacke raschelte ein unangenehmer Brief. Also setzte er sich seufzend aufs Rad. Er fuhr die Dethardingstraße entlang direkt aufs  Haus des Bauwesens  zu. Am Holbeinplatz bog er links ab und quälte sich auf dem holprigen Radweg Richtung Westen, vorbei an der Kunsthalle mit dem roten Metallkubus vor dem Haus. Vorbei an Alt-Reutershagen auf der rechten und dem Komponistenviertel auf der linken Seite – wobei die Viertel sich fast nur durch die Größe der Häuser unterschieden. Der ältere Teil bestand ausschließlich aus Einfamilienhäusern. Gregor fuhr immer weiter geradeaus zum Schutower Kreuz. Früher war hier ein großer Kreisverkehr gewesen, den man in den neunziger Jahren abgeschafft hatte. Gregor hielt sich rechts, um auf den Radweg parallel zur Stadtautobahn zu kommen. Er passierte ein Autohaus, das aussah wie ein Flughafengebäude, und schließlich kamen weit vorn die Plattenbauten in Sicht.
    Gregor war schweißnass, als er im Stadtteil Lütten Klein ankam. Er hatte die Autobahn gekreuzt, war am  Cinestar  vorbei in die St.-Petersburger-Straße abgebogen. Ringsum wurde es trostloser, erschienen die Häuser immer grauer, als sollte man vorbereitet werden auf das Elend, das einem unmittelbar, in der Möllner Straße, bevorstand. Schließlich erreichte Gregor den grauen Klotz, der unfreundlich in den Himmel ragte: das Finanzamt.
    Ein paar Minuten später und drei Etagen höher klopfte Gregor an eine Tür, deren Schild die Sachbearbeiterinnen Plass und Saß für die Buchstaben R bis W ankündigte. Er öffnete die Tür, als drinnen ein freundliches »Ja, bitte« erklang. Gregor war erleichtert. Am Schreibtisch saß nicht die finstere Verwaltungsfachfrau mit grauer Lockenwelle, sondern eine gut aussehende Fünfzigjährige mit lustiger Schüttelfrisur, vor sich auf dem Tisch etliche Papiere, die Oberseite ihres Computerbildschirms war bevölkert von bunten, aufklebbaren Kunststoffwesen mit Wackelaugen – kleine durchsichtige Plastikplättchen mit schwarzen Punkten als Pupillen darin. Neben sich hatte die Frau eine große Kaffeetasse mit einem auf der Spitze stehenden grünen Viereck und einem geschwungenen weißen »W« darauf.
    »Na, Sie trauen sich ja was«, sagte Gregor gespielt empört. »Werder Bremen?«
    Die Frau blickte auf ihre Tasse.
    »Ist doch die Partnerstadt von Rostock«, sagte sie. »Da darf man doch wohl ein bisschen Fan sein, oder?«
    »Na gut«, sagte Gregor, gespielt beschwichtigt. »Das lasse ich Ihnen gerade noch mal durchgehen. Aber wenn  Hansa  in die Erste Bundesliga aufsteigt, gibt es kein Erbarmen mehr.«
    »Da bin ich aber froh«, sagte die Frau. »Sind Sie gekommen, um mir das zu sagen, oder kann ich Ihnen sonst noch helfen?«
    »Ich suche Frau Saß«, sagte Gregor und hielt den Brief mit der Ankündigung der Steuerprüfung hoch. »Sind Sie Frau Saß?«
    »Nein, ich bin Frau Plass, Buchstaben U, V und W«, sagte sie. »Frau Saß«, und dabei nickte sie in Richtung des Arbeitsplatzes gegenüber, »Buchstaben S und T, ist heute nicht da. Worum geht es denn?«
    Auf dem Bildschirm gegenüber kauerte ein Plüschkätzchen.
    »Das ist aber schade«, sagte Gregor und ließ sich resigniert auf den Gästestuhl vor dem Schreibtisch von Frau Plass fallen. »Ich habe einen sehr unangenehmen Brief von Ihrer Kollegin bekommen und nun wollte ich fragen, ob ich den Termin noch etwas verschieben kann. Ehrlich gesagt, ich habe meine Unterlagen nicht so in Ordnung und brauche noch ein paar Tage, um alle Papiere einzusammeln.«
    »Zeigen Sie mal her«, sagte Frau Plass. Gregor reichte ihr das Schriftstück. »Normalerweise können Sie einen formlosen Antrag stellen. Warten Sie mal.«
    Sie stand auf und ging zu einem großen Aktenschrank, zog eine Schublade auf und holte eine Akte heraus.
    »Das ist aber eigenartig«, sagte Frau Plass und blätterte. »Das Schreiben kommt direkt aus der Direktion. Von ganz oben. Mit handschriftlichem Dringlichkeitsvermerk, auch vom Chef.« Sie wiegte den Kopf. »Was haben Sie denn angestellt?«
    Gregor

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