Herrentier
Erdreich gelegen hat, dann würde ich sagen: Mindestens zwanzig Jahre. Genauere Daten kann ich Ihnen nach der Laboruntersuchung liefern.«
»Wie bekommen Sie jetzt die Identität der Toten heraus?«, fragte Gregor.
Behnke und Schwarz drehten sich um und sahen ihn an, als bemerkten sie seine Anwesenheit erst jetzt.
»Er kann Fragen stellen«, sagte Behnke. Oder war es Schwarz? »Ganz einfach: Wir machen ein Foto, schicken das an die Zeitung und bitten die Öffentlichkeit um Mithilfe.«
Leitmeyer wandte sich glucksend ab und hielt sich den Bauch. Behnke und Schwarz sahen Gregor mit todernsten Mienen an. Der ließ beleidigt den Kugelschreiber sinken.
»Aufnahmen vom Gebiss werden gerade erkennungsdienstlich bearbeitet.« Leitmeyer hatte sich wieder im Griff. »Außerdem untersuchen wir den genetischen Fingerabdruck der Person.«
»Der echte Fingerabdruck ist ja futsch«, sagte Behnke erklärend und wies auf die Knochenhand.
»Das ist mir auch klar«, entgegnete Gregor gallig. »Und ich weiß auch, dass wir die Person nicht mehr selber werden fragen können.«
»Da hat er Recht«, sagte Schwarz und wandte sich wieder dem Skelett zu.
»Sind denn noch weitere Überreste der Leiche gefunden worden?«, wandte sich Gregor an Leitmeyer.
»Ein paar Kleidungsfetzen, so etwas wie ein Armband und zwei Gummisohlen, Größe 39.«
»Am End, ich sags ganz unverhohlen, von dir nur bleiben Gummisohlen«, reimte Behnke.
»Alle Achtung, so ad hoc«, sagte Schwarz bewundernd.
Gregor atmete hörbar aus. »Und woran ist sie gestorben?«
»Richtig«, sagte Schwarz. »Das wollte ich auch fragen.«
Leitmeyer drehte den Schädel um, jetzt blickte das Gesicht nach hinten. Auf der rechten Seite fehlte ein Stück der Schädeldecke. »Das war die Todesursache«, sagte Leitmeyer. »Ein einzelner gezielter Schlag, ich vermute mit einem stumpfen Gegenstand.«
»Also keine Affekthandlung«, sagte Gregor.
»Sieht nicht danach aus.«
»Oh, oh, oh«, sang Schwarz halblaut in rauem Falsett. »You don’t have to go, oh, oh.«
»Ich bitte Sie«, zischte Leitmeyer.
»Was für Typen«, sagte der Rechtsmediziner seufzend, als Behnke und Schwarz sich verabschiedet hatten. »Eigenwillig ist gar kein Ausdruck. Aber dass die zulassen, dass Sie bei solch einem sensiblen Termin live dabei sein können, alle Achtung. Sie müssen einen guten Stand haben bei denen.«
»Ich gehöre schon ein bisschen zur Familie. Im Übrigen wissen die, dass ich nicht alles sofort veröffentliche, was ich erfahre. Sonst ist Schluss mit den Informationen. Aber das kennen Sie ja.«
»Ich rechne einfach damit, dass Sie mit den Informationen, die sie hier bekommen, haushalten können«, sagte Leitmeyer. »Alles andere wäre geschmacklos.«
»Wo wir gerade beim Thema sind: Ihr Autoaufkleber, Herr Doktor, hinten auf der Heckklappe. Den finde ich geschmacklos: Tod fährt mit. Ich bitte Sie.«
»Es ist nicht so, wie Sie denken«, sagte Leitmeyer. »So heißt mein Sohn.«
Gregor konnte es nicht fassen. »Das ist ja noch schlimmer. Sie haben Ihren Sohn Tod genannt?«
»Nein, er heißt Tod.« Leitmeyer sprach das »o« offen aus. Tott. »Sie sind wohl kein großer Cineast? Und anglophil sind Sie auch nicht?«
»Was hat das damit zu tun?«
»Ich liebe englische Vornamen. Ich habe eine Weile in Amerika gelebt. Dort habe ich auch Tod Browning kennengelernt. Also seine Filme. Kennen Sie nicht? Ein Genie. Leider vollkommen verkannt. Hat ein paar brillante Streifen gedreht, nicht nur aus Sicht des Rechtsmediziners, sondern auch sonst. Sein Meisterwerk heißt Freaks. Phänomenal. Sollten Sie unbedingt einmal ansehen.«
»Geht es darin um unsere beiden Hauptkommissare?«
»Wie man’s nimmt, ein bisschen schon. Allerdings ist der Film aus dem Jahre 1932. Der erste Horrorfilm. Er spielt in der Zirkuswelt unter lauter Jahrmarktsattraktionen. Zwerge, Menschen mit viel zu kleinen Köpfen, Menschen ohne Gliedmaßen, was damals eben als Freak angesehen wurde. Eine ziemlich hübsche Frau heiratet einen Zwerg. Natürlich nur wegen des Geldes. Als der das mitbekommt, ist die Hölle los. Sehen Sie es sich an. Ich sage nur: Sie wird bestraft für ihre Taten.«
»Was passiert denn mit ihr?«
»Sie verwandelt sich in ein Tier.«
»Wie passend.«
»Äußerst passend. Am Ende verschieben sich alle Grenzen. Gut und böse, schön und hässlich, normal und nicht normal. Beeindruckend.«
Leitmeyer verließ grübelnd den Seziersaal und ließ Gregor allein mit dem Skelett zurück.
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