Herrentier
verloren hatte. Da waren Autos in eine Sandverwehung gerast. Eben noch strahlender Sonnenschein, plötzlich finster, null Meter Sicht – und peng. Danach fingen sie an, Sandbarrieren für die Äcker zu bauen, damit so etwas nicht noch mal passiert. Aber für die junge Frau war es zu spät. Die saß da in ihrem Einfamilienhaus mit der kleinen Tochter, völlig auf sich gestellt. Schrecklich.«
»Das baut mich jetzt nicht gerade auf«, sagte Gregor und nahm einen weiteren Schluck.
»Wenn du Glück hast, haben die Eltern sich schon längst damit abgefunden, dass ihre Tochter tot ist oder nie mehr wiederkommt. Mehr als zwanzig Jahre. Da gibst du doch jede Hoffnung auf. Und wenn du mit der Geschichte fertig bist, darfst du dich wieder deinen Zoofinanzen widmen. Mann, das will doch keiner hören, so auf die Dauer.«
Während der Fahrt durch die Lange Straße dachte er über die Artikel nach, die er in den alten Zeitungen gelesen hatte. Er suchte verzweifelt nach einem passablen Gesprächseinstieg. Er wollte die Leute in Ruhe lassen, musste aber doch mit ein paar Fakten wieder zurückkommen. Wie s›llte man das hinbekommen? ‚Guten Tag, mein Name ist Simon. Jetzt, wo Sie wissen, dass Ihre Tochter tot ist, wollte ich mal frag‹n, wie Sie sich so f›hlen.’ Oder dumm stellen: ‚Ich wollte mich mal erkundigen, ob Sie etwas Neues über I‹re Toch›er erfahren haben.’ Oder: ‚Wohnt hier ni‹ht auch Fräulein Schröder?’ Mist, alles Mist.
Gregors Kopf war leer, als er zwanzig Minuten später völlig ausgepumpt in der Maxim-Gorki-Straße ankam. Er schloss sein Fahrrad an, fand den Aufgang und stieg in den dritten Stock hinauf. An der Tür prangte ein holzgeschnitztes Schild mit ausladenden Buchstaben: Schröder. Offensichtlich eine Heimwerkerarbeit. Die Klingel spielte die Melodie des Big Ben. Noch bevor sie zu Ende war, öffnete sich die Tür.
»Entschuldigen Sie bitte die Störung. Mein Name ist Gregor Simon, ich arbeite für die Rostocker Allgemeine «, sagte er zu dem freundlichen älteren Herren, der geöffnet hatte.
»Ah, Sie kommen bestimmt wegen unserer Tochter«, sagte der Mann. »Treten Sie ein.«
Gregor war erleichtert. Aber irgendetwas stimmte nicht.
»Setzen Sie sich doch. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
Gregor setzte sich auf einen Sessel und bat um ein Wasser. Der Mann verschwand in der Küche. Gregor sah sich um. Ein Neubauwohnzimmer wie aus dem Bilderbuch der Klischees. Sofa, zwei Sessel, flacher Couchtisch, Anbauwand. Braune Töpferware als Dekor. Eine ausladende Grünpflanze in der Zimmerecke, Orchideen, den Namen als Plastikbanderole um den Stiel geschlungen, auf dem Fensterbrett. Eine Mischung aus dem Charme der achtziger Jahre und neuzeitlichen Einsprengseln. Hinter den verglasten Regalen der Anbauwand einige Bücher. Eine riesige rot gebundene Bibel. Der schreiend bunte Buchrücken von Dianetik , L. Ron Hubbards Opus, das Anfang der neunziger Jahre in buchstäblich alle Wohnzimmer gespült wurde. Der Bestseller, der mit dem Begrüßungsgeld kam. Wir nutzen nur zehn Prozent unserer Hirnkapazität, der Rest liegt brach und wartet darauf, endlich beansprucht zu werden. So ungefähr erinnerte sich Gregor an die Kernthese des Buchs. Gregor hätte aus dem Stand mehrere Leute aufzählen können, die aller Wahrscheinlichkeit nach noch weniger Hirnsubstanz benutzten. Aber weiter vertiefen konnte er den Gedanken nicht, denn er hatte das Buch nicht gelesen. Wie vermutlich die allermeisten seiner Besitzer, weshalb Scientology am Ende doch eher ein Gespenst war als eine Realität.
Außerdem kam Heinz-Günther Schröder zurück ins Wohnzimmer und stellte ein Glas Wasser vor ihm auf den Tisch. Gregor trank einen Schluck und nahm sein Schreibzeug aus der Tasche.
»Ich möchte Sie wirklich nicht zu lange behelligen in dieser Situation«, begann Gregor. Aber der alte Mann winkte ab.
»Fragen Sie nur, ich rede gern über meine Tochter. Immerhin ist sie ja so etwas wie ein Medienstar. So sagt man doch heute, oder? Na, das war sie ja früher schon.«
»Wie meinen Sie das?«
»Damals in der Wende. Die Zeit der großen Politik. Da hat sie sich voll reingestürzt. Sie hatte schon immer einen guten Riecher für die richtigen Entscheidungen. Heute bringt Politik ja überhaupt nichts mehr. Aber damals konnte man noch richtig was bewegen, und das hat sie auch getan, unsere Manuela. Neues Forum, Bündnis 90. Und alle haben sich um sie gerissen.«
Der alte Mann stellte sich ans
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