Herrin der Lüge
Augenwinkel sah sie, dass sich die Burgwachen auf der Turmplattform drängten; einer verpasste Faun einen Schlag mit dem Schwertknauf.
»Nein!«, stöhnte sie.
Fauns Kopf – kahl rasiert nach Art der männlichen Gaukler – sackte nach vorn, dann brach er hinter den Zinnen zusammen. Zwei Soldaten packten ihn an den Armen und zerrten ihn hinab in den Turm. Ihre Brutalität entsetzte Saga. Faun hatte sich nicht mal zur Wehr gesetzt.
Am liebsten wäre sie zurückgelaufen, ungeachtet des Abgrunds und der Flammen. Sie musste sich zwingen, wieder nach vorn zu blicken und ihren Weg fortzusetzen. Wenn sie länger zögerte, würde sie abstürzen. Keine Zeit mehr. Sie musste weiter.
Der Trommelschlag setzte sich fort. Hatte ihr Vater nicht bemerkt, was geschehen war? Doch, sicher, er musste die Soldaten gesehen haben. Aber der Auftritt hatte Vorrang. So war es schon immer gewesen. Manchmal hasste Saga ihn dafür. Nichts war so wichtig wie das Gelingen der Vorstellung, die Begeisterung des Publikums – und, zu guter Letzt, die Münzen in den Holzschüsseln, mit denen ihre vier jüngeren Schwestern durch die Menge liefen.
Saga geriet erneut ins Schwanken. Sie durfte jetzt nicht an ihren Vater denken, nicht einmal an Faun. Horch nur auf die Trommel! Sie vertreibt alles andere, lässt dich schweben, macht dich leicht, ganz leicht.
Und weiter, mach schon!
Mit der Ruhe der Menge war es vorbei. Die Zuschauer tobten. Viele Aahs und Oohs ertönten, aufmunternde Rufe und, wie üblich, auch die Aufforderung des einen oder anderen Witzbolds, einfach stehen zu bleiben und abzuwarten.
Aber Saga konzentrierte sich nur auf die Trommel. Für gewöhnlich schärfte das alle Sinne. Nur das Gefühl in ihren Fußsohlen zählte und das Gleichgewicht ihrer ausgestreckten Arme. Das Gefährliche war, dass sie nicht spüren konnte, wie weit die Flammen das Seil bereits verzehrt hatten. Es würde keine Vorwarnung geben, ehe der Strick zu Asche zerfiel.
Die Trommel. Nur die Trommel war jetzt wichtig. Auf ihren Klängen musste sie sich treiben lassen, so als griffen ihr die Laute unter die Arme und trugen sie zu den Zinnen hinüber.
Saga starrte auf ihre Füße. Noch drei Schritte. Die Schärfe ihres Blickes verlagerte sich vom Seil und ihren Zehen zum Burghof tief darunter. Die Menge teilte sich, als die Bewaffneten Sagas Zwillingsbruder quer durch das Publikum zum Haupthaus schafften.
Zwei Schritte.
Die Rufe wurden lauter. Anfeuerndes Gebrüll stieg mit den Rußfahnen zahlloser Feuerbecken zu ihr auf. Die Trommelschläge hätten all das übertönen sollen, doch Sagas Konzentration war endgültig zerstört. Aus allen Richtungen schienen jetzt Geräusche auf sie einzudringen. Das Fauchen der hungrigen Flammen. Das Säuseln des frischen Abendwindes. Das Ächzen des brennenden Hanfstricks.
Fauns Gedanken inmitten der ihren: Achte nicht auf mich! Mach weiter! Beeil dich!
Seine Stimme war nur Einbildung, ebenso das Wispern der Flammen. Aber die Vorstellung gab Saga den nötigen Stoß nach vorn. Sie setzte alles aufs Spiel, federte einmal auf und nieder viel zu stark! –, stieß sich ab, schleuderte die Fackeln nach beiden Seiten von sich und flog mit einem Satz auf den Zinnenkranz zu.
Hinter ihr zerfiel das Seil in einem Funkenregen. Wie eine brennende Ameisenstraße löste sich die hintere Hälfte in tausend Glutpartikel auf, die taumelnd in die Tiefe stoben. Die unversehrte Seite sackte unter Saga davon, zischte schlängelnd in den Abgrund und schlug im selben Moment gegen die Turmmauer, als Saga die Zinnen zu fassen bekam.
Niemand war da, um ihr zu helfen. Früher hatte dort ihre Mutter auf sie gewartet, doch seit ihrer Krankheit konnte sie keine Treppen mehr steigen.
Saga landete mit einem angezogenen Knie zwischen zwei Zinnen, stieß sich grauenvoll hart das Schienbein, verkeilte sich mit ausgestreckten Armen und zog sich blindlings vornüber. Einen Augenblick lang war ihr, als würde ihr zweites Bein sie zurückreißen, wie es da ausgestreckt über dem Abgrund baumelte und ihr plötzlich so schwer erschien wie Granit. Dann aber fiel sie vorwärts auf die Turmplattform, krachte auf die linke Schulter, rollte sich ab und blieb auf dem Rücken liegen.
Unten im Hof brandete Jubel auf. Hochrufe aus hunderten Kehlen, tobender Applaus, ausgelassenes Lärmen, Klatschen und Brüllen.
Saga lag auf dem Rücken, spürte jeden schmerzenden Knochen in ihrem Körper und bekam keine Luft. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, ehe sie wieder atmen konnte.
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