Herrin der Lüge
Ein schmerzerfülltes Lächeln flirrte um ihre Lippen. Sie hatte sich bepinkelt; das Leinen ihrer Beinlinge klebte wann und feucht an ihren Oberschenkeln.
Über ihr am dunkelblauen Himmel funkelte der erste Stern. Sie starrte ihn an wie etwas ungeheuer Schönes, vollkommen Einzigartiges.
Ich tue das niemals wieder, sagte sie sich und wusste es doch besser. Bis zur nächsten Burg, zum nächsten Ort, zum nächsten Markttag würde sie fluchen und schimpfen – und dann erneut auf ein Seil klettern und vor dem Feuer fliehen. Wie armselig, überlegte sie, seinen Lebensunterhalt damit zu verdienen, dass man vor etwas davonläuft. Und wie irrsinnig, dabei sein Leben aufs Spiel zu setzen.
Sie war dem Tod noch nie so nahe gewesen wie gerade eben. Er hatte die Hand schon nach ihr ausgestreckt, da oben auf dem Seil.
Nie wieder, es sei denn –
Faun!
Die Erinnerung verdichtete sich, das Bild der gerüsteten Wachleute in ihren leichten Kettenhemden und den wappenlosen Steppwämsern. Faun halb bewusstlos in ihrer Mitte.
Sie musste herausfinden, was mit ihm geschehen sollte. Heiliger Jesus, warum konnte er das Stehlen nicht sein lassen? Benommen rappelte sie sich hoch, kämpfte gegen ihren Schwindel. Die nassen Beinlinge rochen nicht schlimmer als die heiße Luft, die sich im Inneren des Burghofs staute und selbst hier oben noch ganz erbärmlich stank.
Im Dunkeln fand sie den Zugang zur Treppe und machte sich schwankend an den Abstieg.
Ihr Vater kam ihr im Schein der Feuerbecken entgegen, als sie gerade den Turm verließ. Er fasste sie an den Schultern. »Geht’s dir gut?«
»Ich hab mich bepinkelt.«
Er zerrte sie an sich und umarmte sie. Sie erwiderte die Geste nicht. Im Augenblick fiel es ihr schwer, ihn zu mögen. Vielleicht war auch seine Sorge nur Spiel, nur Gaukelei für die Augen der Zuschauer. Bei ihm konnte man nie ganz sicher sein.
»Wo ist Faun?«, fragte sie und entwand sich seinen Armen. »Hast du gesehen, wohin sie ihn gebracht ha ben?«
Die Züge ihres Vaters verhärteten sich. Sein Kopf war so stoppelig wie der von Faun – alle Männer unter den Gauklern schoren sich das Haupt, nur Mädchen und Frauen trugen langes Haar. »Lass uns jetzt nicht von ihm sprechen. Er hat einmal zu oft sein Glück herausgefordert und sich –«
»Nicht von ihm sprechen?« Sie trat einen Schritt zurück und wäre fast über die eigenen Füße gestolpert. Ihre Knie waren noch immer ganz weich. »Ich kann nicht glauben, dass du das ernst meinst.«
»Zuerst machen wir weiter«, beschwor er sie mit warnendem Unterton. »Später können wir hören, was sie ihm vorwerfen.«
»Er ist dein Sohn!«, brüllte sie ihn an, viel zu heftig, viel zu laut. Erst jetzt bemerkte sie, wie viele Menschen ihre Ankunft am Boden erwartet hatten, um sie jubelnd in Empfang zu nehmen. Doch die Gesichter, die ihr wie ein lebender Wall entgegenstarrten, blieben nun stumm. Alle schienen gespannt auf den Streit zu sein, der da zwischen Vater und Tochter entbrannte. Saga las in ihren Augen, was sie dachten: Es sind nur Gaukler! Lasst sie sich zerfetzen, vielleicht wird sogar das ganz amüsant.
Sie beschloss, die Meute zu ignorieren, und konzentrierte sich wieder auf ihren Vater. »Wir können nicht einfach zusehen, wie sie ihn in den Kerker sperren!«
Ihr Vater beugte sich an ihr Ohr, damit die Umstehenden seine Worte nicht hörten. »Faun ist ein Dieb, Saga. Er ist mein Sohn, und ich liebe ihn. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass er ein verfluchter Unruhestifter ist.«
»Hast du nie in deinem Leben gestohlen?«
»Ich hab mich nicht so oft dabei erwischen lassen.«
Sie starrte so fest es eben ging in seine Augen. Ihr Vater war strenger Mann, und manchmal vergaß er über alle Prinzipien sein Herz. Aber er war niemals kalt gewesen. Wenn es nun doch diesen Anschein hatte, dann konnte das nur eines bedeuten: Er hatte Angst. Angst um Faun, gewiss, aber noch mehr Angst um seine ganze Familie. Diebstahl war ein schweres Verbrechen, und es bestand nicht der geringste Zweifel, dass Faun schuldig war. Nicht einmal Saga konnte das bestreiten.
»Ich suche ihn.«
»Nein«, widersprach er heftig. »Das wirst du nicht! Wir kümmern uns später darum. Die Vorstellung ist noch nicht zu Ende.«
»Ich stinke nach Pisse. Ich kann jetzt nicht –«
»Dann zieh dich um. Eine Weile lang kann ich sie noch hinhalten.« Er deutete zu dem kleinen Podest, das der Gauklerfamilie als Bühne diente. Die Menge hatte ihre Aufmerksamkeit nun wieder dorthin
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