Herrin der Lüge
denn damit hätte sie auch den Namen ihres Hauses in Verruf gebracht; den Hofkanzler Konrad von Scharffenberg, der die Zerstörung des Dokuments mit angesehen hatte, aber ebenfalls schweigen würde, um die Ehe des Kaisers nicht zu gefährden; und, zu guter Letzt, jener namenlose junge Mann, über den kaum etwas bekannt war.
Doch Faun besaß keine Beweise und war von niederer Geburt. Deshalb, vielleicht, war er sicher.
Vielleicht aber auch nicht.
Er und Saga spielten kurz mit dem Gedanken, ihre Eltern und Schwestern ausfindig zu machen. Dann entschieden sie sich dagegen. Es gab noch etwas anderes, das sie erledigen mussten.
Schon auf dem Weg nach Norden hatten die Zwillinge begonnen, kleine Kunststücke in Gasthäusern aufzuführen, während Tiessa für die Gäste tanzte. An manchen Abenden war es fast so gewesen, als hätte es die vergangenen Monate niemals gegeben. Faun wünschte sich, dass es immer so weitergehen könnte. Doch er wusste, dass das Ende kurz bevorstand.
An einem sonnigen Nachmittag im Oktober begleiteten sie Tiessa bis zum Aufstieg des Stauferschlosses. Saga umarmte sie und wünschte ihr Glück.
»Und du willst ihm wirklich nicht begegnen?«, fragte sie. »Er ist dein Halbbruder.«
Tiessa schüttelte den Kopf. »Mein Vater hat ihn nie als sein Kind anerkannt. Es würde nichts ändern.«
Saga zog sich zurück und beobachtete aus einiger Entfernung, wie Faun und Tiessa lange unter den Ästen einer alten Eiche standen, das Schloss majestätisch im Hintergrund, während Herbstlaub rot und gelb von den Zweigen rieselte und schimmernd durch die Täler trieb. Faun beugte sich vor und flüsterte Tiessa etwas ins Ohr. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, während ihr gleichzeitig die Tränen über die Wangen liefen. Saga musste sich abwenden, damit es ihr nicht genauso erging.
Als sie wieder hinsah, war Tiessa auf dem Weg hinauf zur Festung. Faun blickte ihr nach, aber sie schaute sich nur ein einziges Mal um, winkte ihm zu und trat in den Schatten Hohenstaufens. Bald war sie nicht mehr zu sehen, ein schlankes junges Mädchen unterwegs auf den Thron eines Kaiserreichs.
Faun sprach nicht viel in den nächsten Tagen und hing düsteren Gedanken nach. Aber ganz allmählich hellte sich seine Miene wieder auf, erst ein wenig, dann etwas mehr, und nach fast zwei Wochen erkannte Saga in ihm wieder ihren Bruder, wie er früher gewesen war. Etwas ernster, etwas nachdenklicher, gewiss – aber eben Faun, der Gaukler, der ihr als Kind Honig ins Haar geschmiert und sie gezwickt hatte, wenn ihm danach gewesen war.
Und dann, an einem Samstag im November, erreichten sie den Ort, den Gahmuret ihr genannt hatte. Das Kloster lag am Rande einer Schlucht, umgeben von tiefen Wäldern. Seine Gebäude waren aus Holz, nur eine Mauer rund um das Anwesen hatte man aus festem Gestein errichtet.
Der Junge war draußen bei den Schafen, gekleidet wie die übrigen Novizen. Die Mönche nannten ihn Michael. Saga und Faun beobachteten ihn aus der Ferne, sahen ihn lachen und mit den Tieren spielen. Er war zwölf. Der Abt hatte ihnen erzählt, dass er das weiseste Kind war, das ihm je begegnet sei. Weise, in der Tat, das sagte er.
Der Junge sah nicht aus, als lege er Wert auf das Erbe einer Grafschaft.
Saga und Faun blickten einander schweigend an. Dann gingen sie fort, ohne das Wort an ihn zu richten.
Während sie auf einem Marktplatz ihren abendlichen Auftritt vorbereiteten, zog Saga ihren Bruder plötzlich zu sich herum – hoch über ihnen der gespannte Strick für den Seilakt, neben ihnen rauchende Feuerbecken und schnatternde Enten im Käfig eines Bauern –, und sie umarmte ihn lange und wollte ihn gar nicht mehr loslassen.
»Wir sind zu Hause.«
Er lächelte nur »Danke«, flüsterte sie
Nachwort des Autors
Ein Kreuzzug der Jungfrauen hat nie stattgefunden. Dennoch hat es vergleichbar aberwitzige und tragische Unternehmungen gegeben, etwa die Kinder- oder Bauernkreuzzüge, die allesamt in Katastrophen endeten.
Historisch belegt sind die Angaben zum vierten Kreuzzug, der zum Untergang Konstantinopels führte. Die Art und Weise seiner Planung, wie sie in diesem Roman beschrieben wird, ist Spekulation, obgleich vieles auf geheime Absprachen zwischen den Verantwortlichen hindeutet.
Ebenfalls auf Fakten basieren die Beschreibungen der Via Mala, die heutzutage gefahrlos durchwandert werden kann, bis ins Spätmittelalter jedoch als gefährlichste Wegstrecke durch die Alpen galt. Überreste eines römischen
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