Herrin der Stürme
daß mir vielleicht ein unbekannter Vorfahr ein bißchen Voraussicht mitgegeben hat, denn manchmal, wenn ich einen großen Blitzschlag sehe, weiß ich, daß es später auflodern wird. Und dann beobachte ich die Stelle einige Stunden mit besonderer Sorgfalt.«
Renata sagte: »Ich würde gerne über Eure Vorfahren Erkundigungen einziehen, um herauszufinden, wie diese Spur von Laran in Euer Blut kam.«
»Oh, das weiß ich«, sagte Kyril fast schuldbewußt. »Meine Mutter war eine Nedestro des Bruders des alten Lord Rockraven – nicht von dem, der jetzt regiert, sondern dem vor ihm.«
Wie kann ich dann sagen, daß es irgendeine Laran-Gabe gibt, die schlecht und ohne möglichen Nutzen zum Guten ist? dachte Renata. Kyril hatte seine ererbte Gabe zu einem nützlichen, erprobten und unschädlichen Beruf gemacht.
Donal hing seinen eigenen Gedanken nach.
»Wenn das so ist, Kyril – dann sind wir ja miteinander verwandt.« »Tatsächlich, Master Donal, aber ich habe mich nie bemüht, die Rockravens das wissen zu lassen. Mit Verlaub, sie sind ein stolzes Volk, und meine Mutter war zu anspruchslos für sie. Und ich habe kein Bedürfnis nach irgend etwas, das sie mir geben könnten.«
Dorilys ließ ihre Hand vertrauensvoll in Kyrils gleiten. »Dann sind wir ja auch verwandt«, sagte sie. Er lächelte und tätschelte ihre Wange. »Du bist wie deine Mutter, Kleines. Sie hatte deine Augen. Wenn die Götter wollen, hast du ihre liebliche Stimme geerbt, so wie du jetzt schon ihre freundlichen Umgangsformen hast.«
Renata dachte: Sie bezaubert jeden, wenn sie nicht gerade hochnäsig oder störrisch ist! Auch Aliciane muß diese Liebenswürdigkeit besessen haben.
»Komm her, Dorilys«, sagte sie. »Sieh dir den Sturm an. Kannst du sehen, wohin er gehen wird?«
»Ja, natürlich.« Dorilys’ Augen wurden schmal. Sie verzog ihr Gesicht. Allart sandte Renata einen Blick zu, der beinhaltete, ob er ihre Schülerin befragen dürfe.
»Seine Bahn ist also festgelegt und kann überhaupt nicht verändert werden?«
Dorilys antwortete: »Es ist fürchterlich schwer zu erklären, Verwandter. Der Sturm könnte diesen oder jenen Verlauf nehmen, wenn der Wind sich ändert, aber ich kann nur eine oder zwei mögliche Windrichtungen sehen …«
»Aber sein Weg ist festgelegt?«
»Es sei denn, ich versuchte ihn zu ändern«, sagte sie.
»Könntest du ihn ändern?«
»Nicht, daß ich ihn bewegen könnte.« Dorilys blickte ernst und konzentriert, als sie nach Worten suchte, die ihr nie beigebracht worden waren, und von denen sie nicht wußte, daß es sie gab. »Aber ich kann alle Bahnen sehen, in denen er sich bewegen könnte.«
Allart, der eine behutsame Verbindung mit ihrem Geist aufnahm, fing an, die grauen, sich auftürmenden Sturmwolken zu fühlen und zu sehen wie sie: überall zur gleichen Zeit. Aber er konnte aufspüren, wo der Sturm sich aufhielt, wo er gewesen war, und sah mindestens vier Möglichkeiten, wo er hingehen konnte.
»Aber was sein wird, kann nicht verändert werden, nicht wahr, kleine Cousine? Er folgt seinen eigenen Gesetzen, oder? Du hast nichts damit zu tun.«
Sie sagte: »Es gibt Stellen, an die ich ihn dirigieren könnte, und solche, wo mir dies nicht gelingt, weil die Bedingungen nicht dafür vorhanden sind. Es ist wie der Lauf des Wassers. Wenn ich Steine hineinwerfe, würde es um sie herumfließen. Aber ich könnte es nicht dazu bringen, aus dem Flußbett zu springen oder bergauf zu fließen.« Dorilys schien nach einer passenderen Erklärung zu suchen. Sie fuhr fort: »Das macht mir Kopfschmerzen. Ich werde es euch zeigen. Seht dorthin.« Sie wies auf die mächtige, amboßförmige Sturmmasse unter ihnen. Allarts Einfühlungsvermögen wurde mit dem ihren deckungsgleich. Plötzlich sah er mit seiner eigenen Gabe die wahrscheinliche Bahn des Sturms und die weniger wahrscheinlichen, wo er ins Nichts völliger Unwahrscheinlichkeit und hinter den äußersten Grenzen seiner Wahrnehmungsfähigkeiten verschwand. Dann war Dorilys’ seltsame Gabe seiner eigenen ähnlich – aber ausgedehnt, verändert und auf fremdartige Weise verschieden. Aber im Grunde dieselbe: Sie konnte alle möglichen Zukunftsentwicklungen sehen – die Stellen, die der Sturm treffen, und jene, die er aus sich selbst heraus nicht treffen konnte …
Und wie er selbst konnte sie wegen der Kräfte, die jenseits ihrer Kontrolle lagen und Einfluß auf sie nahmen, nur in einem sehr beschränkten Maß zwischen diesen Möglichkeiten wählen …
So wie ich meinen Bruder
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