Herrin der Stürme
einzelnes kleines Licht glühte in jenem Schrein, in dem die Statue des Heiligen Lastenträgers über der letzten Ruhestätte des Heiligen stand. Mit ruhigen Bewegungen und geschlossenen Augen, wie es die Regeln verlangten, wandte Allart sich seinem Platz in den Bankreihen zu. Wie ein Ganzes kniete die Bruderschaft nieder. Allart, dessen Augen noch immer vorschriftsmäßig geschlossen waren, hörte das Fußrascheln und das gelegentliche Straucheln eines Novizen, der sich noch auf den äußeren, statt auf den inneren Blick verlassen mußte, um seinen ungeschickten Körper durch die Dunkelheit des Klosters zu bewegen. Die Schüler, noch nicht vereidigt und ohne geringste Ausbildung, stolperten in der Dunkelheit. Sie verstanden noch nicht, weshalb die Mönche Licht weder erlaubten noch benötigten. Flüsternd, einander anrempelnd, stolperten sie und fielen manchmal hin, aber schließlich befanden sich alle auf den ihnen zugewiesenen Plätzen. Ohne ein wahrnehmbares Signal erhoben sie sich in einer einzigen, kontrollierten Bewegung, als folgten sie einem unsichtbaren Signal des Pater Vorsteher. Ihre Stimmen erhoben sich zur Morgenhymne:
»Eine einzige Macht schuf Himmel und Erde,
Berge und Täler,
Dunkel und Licht;
Mann und Frau,
Mensch und Nichtmensch.
Diese Macht ist nicht zu sehen,
Ist nicht zu hören,
Ist nicht zu ermessen.
Von nichts außer dem Geist, der teilhat an dieser Macht. Ich nenne sie göttlich …«
Das war der Augenblick eines jeden Tages, in dem Allarts innere Fragen, Sehnsüchte und Sorgen völlig verschwanden. Wenn er die Stimmen seiner Brüder singen hörte, alte und junge, kindlich schrill oder altersrauh, wenn seine eigene Stimme sich in dem großen Konsens verlor, dann sah er sich nicht mehr in dem Gefühl einer getrennt suchenden und fragenden Einheit. Schwebend ruhte er in dem Wissen, daß er der Teil eines Größeren war, ein Teil der großen Macht, die die Bewegung der Monde, Sterne, der Sonne und des dahinterliegenden unbekannten Universums aufrechterhielt; daß er hier einen wahrhaften Platz in der Harmonie besaß; daß er, wenn er verschwand, ein Loch von AllartGröße in einem universellen Geist hinterließ; daß er etwas war, das nicht ersetzt oder verändert werden konnte. Wenn er den Gesang hörte, war er ganz in Frieden versunken. Der Klang seiner eigenen Stimme, ein ausgebildeter Tenor, erweckte Freude in ihm, aber nicht mehr, als der Klang jeder anderen. Ihm gefiel selbst die rauhe und unmelodiös zitternde Stimme des neben ihm stehenden Bruders Fenelon. Immer, wenn er mit seinen Brüdern sang, fielen Allart die ersten Worte ein, die er über Sankt-Valentin-im-Schnee gelesen hatte, Worte, die ihn während der Jahre seiner größten Qual erreicht, und ihm zum ersten Mal, seit er der Kindheit entwachsen war, Frieden gegeben hatten.
»Jeder von uns ist wie eine einzelne Stimme in einem großen Chor, eine Stimme wie keine zweite. Jeder von uns singt einige Jahre in diesem großen Chor, dann ist seine Stimme für immer verstummt. Andere nehmen dann ihren Platz ein. Aber jede Stimme ist einzigartig, keine ist schöner als die andere, keine kann das Lied einer anderen singen. Nichts nenne ich Sünde, außer dem Unterfangen, das Lied eines anderen oder mit eines anderen Stimme zu singen.«
Und Allart war beim Lesen dieser Worte klargeworden, daß er seit seiner Kindheit auf Befehl seines Vaters und seiner Brüder, der Hauslehrer, Waffenmeister und Stallknechte, der Untergebenen und Vorgesetzten eine Melodie zu singen versucht hatte – mit einer Stimme, die seiner eigenen nicht entsprach. Er war ein Cristofero geworden, was man bei einem Hastur für unziemlich hielt; immerhin war er ein Nachkomme von Hastur und Cassilda, ein Nachkomme von Göttern, einer, der Laran besaß – ein Hastur von Elhalyn, aus der Nähe der heiligen Stätten von Hali, in denen die Götter einst gewandelt waren. Seit undenklichen Zeiten beteten die Hasturs den Herrn des Lichts an. Und doch war Allart ein Cristofero geworden, hatte seine Brüder verlassen und auf sein Erbe verzichtet. Er war hierher gekommen, um Bruder Allart zu sein; seine Herkunft war unter den Brüdern von Nevarsin fast vergessen.
Sich selbst vergessend, und doch seines individuellen und einzigartigen Platzes in Chor, Kloster und Universum völlig bewußt, sang Allart die langen Hymnen. Später ging er, noch immer nüchtern, an die ihm zugewiesene Morgenarbeit, die darin bestand, daß er den Novizen und Schülern des äußeren
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