HERZ HINTER DORNEN
Lähmung, und sie wusste, dass er im nächtlichen Dunkel in ihren Zügen zu lesen versuchte. Es würde ihm ebenso wenig gelingen wie ihr bei ihm.
Sie waren wie zwei gesichtslose Phantome im Dunkel der Nacht, auf die Dinge angewiesen, die sie hörten und mit ihren Sinnen beim anderen erfassten. Roselynne spürte, wie er die mögliche Lüge sorgsam prüfte und sie schließlich verwarf.
»So habt Ihr es am Ende doch gewusst«, sagte er heiser und zwang sich, den Schaden wenigstens in Grenzen zu halten. »Welche der Schwestern seid Ihr? Die Jüngste mit den Zöpfen?«
Jetzt war es an Roselynne zu erstarren. Die Kränkung kam unerwartet und schmerzte. Sie hatte nicht gedacht, dass er sich so jämmerlich wenig an ihre Person erinnerte. Dass sie tatsächlich nicht mehr als ein lästiges Kind für ihn gewesen war. Eine von drei kleinen Schwestern. Ein staksig ungelenkes Ding mit dicken Zöpfen, das er vergessen hatte, ohne zu wissen, dass sein Fortgang dieses Leben beendet hatte, noch ehe es richtig begonnen hatte.
Sie war ihm damals kaum von der Seite gewichen in ihrem Bemühen, ihn zu trösten, ihm zu helfen und für sein Wohl zu sorgen. Sie war so weit gegangen, dass ihre Mutter sie ermahnen und ihre Kinderfrau sie bestrafen musste. Jetzt erfuhr sie, dass all dieser Ärger auch noch umsonst gewesen war. Anscheinend hatte er sie noch weniger zur Kenntnis genommen, als sie es in ihrem damals schon reichlich bemessenen Unglück begriffen hatte.
Roselynne zwang sich, das eigene Elend zu missachten. Es war nicht wichtig. Sie klammerte ihre eisigen Finger über seiner Brust in die Falten seines Wamses. Er zuckte zurück und registrierte verwundert die vehemente Kraft der zarten Hände, die nicht zuließen, dass er sich entfernte.
»Warum schmückt Ihr Euch mit fremden Federn und verschweigt, wer Ihr seid?«, wisperte sie heiser.
Sie bezog sich auf die Dinge, die sie im verlassenen Garten der Königin gehört hatte. Er hielt es ahnungslos für einen bloßen Vorwurf, aber er formulierte seine Antwort dennoch sorgfältig.
»Luthais gehört zu meinem Lehen, ich sage keine Unwahrheit, wenn ich behaupte, sein Herr zu sein. Ich trage diesen Namen mit Recht.«
Roselynne ruckte an dem Stoff, um ihn zornig zu schütteln, aber er rührte sich nicht. Es hätte größerer Kräfte als der ihren bedurft, diesen Mann aus seinem körperlichen Gleichgewicht zu bringen. Wie es um das seelische Gleichgewicht stand, vermochte sie indes nicht zu sagen.
»Dennoch geht es nicht mit rechten Dingen zu, wenn ein Graf sich für einen simplen Seigneur ausgibt«, beharrte sie auf ihren Vorwürfen. »Ihr treibt ein falsches Spiel mit dem König und dem ganzen Hof. Welchen Grund gibt es für einen Edelmann von Rang und Namen, sich kleiner und unbedeutender zu machen, als er es ist, wenn nicht Verrat? Ist es nicht arg abgeschmackt, sich an einem ganzen Königreich zu rächen, nur weil eine einzige Frau Euch vor vielen Jahren tief gekränkt hat?«
Ihre entrüsteten Vorwürfe fanden erst ein Ende, als ihr der Atem ausging. Sie bekam keine Antwort. Sie spürte auch keine Reaktion in ihm. Da war lediglich eine unmerkliche Bewegung des breiten Brustkorbes unter ihren Händen, für die es eigentlich nur eine Erklärung geben konnte.
»Ihr lacht?«, zischte sie und entdeckte erstaunt, dass sie ihn in diesem Augenblick ebenso bewunderte wie hasste. »Werdet Ihr auch noch lachen, wenn Ihr den Verrätertod unter der Henkershand sterbt? Kümmert es Euch überhaupt, ob eine Menschenseele um Euch weint? Vielleicht sollte ich meiner klugen Schwester zu ihrem Weitblick gratulieren. Sie hat wohl zeitig erkannt, dass sie einem Schurken ohne Herz auf den Leim gegangen wäre.«
»Es liegt an Euch, mir dieses tragische Schicksal zu ersparen«, entgegnete er so gelassen, als unterhielten sie sich über die gezuckerten Mandeln, die sie vorhin gegessen hatte. »Beruhigt Euch und behaltet für Euch, was Ihr zu wissen glaubt. Überlasst es also mir, mein Leben zu führen, dann ist kein tödliches Ende zu fürchten.«
Der Sarkasmus in seiner beherrschten Stimme brachte Roselynne nur noch mehr in Rage. Sie war viel zu aufgewühlt, um sich die Ruhe zu nehmen, seine Worte genauer zu hinterforschen. In ihrer Angst machte sie nicht einmal mehr den Versuch, sich auf seine Gefühle und Gedanken zu konzentrieren. Sie begriff nur eines: Er spottete über ihre Furcht. Es bedeutete ihm nicht das Geringste, dass sie um ihn zitterte. Ja, es hatte fast den Anschein, als genösse er die
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