HERZ HINTER DORNEN
Prolog
Winchester und Rouen
Herbst 1088
Kälte breitete sich urplötzlich in Roselynnes Adern aus und lähmte ihren Geist. Die Sticknadel verfehlte den nächsten sorgsamen Stich und bohrte sich in die Kuppe ihres Daumens.
»Autsch ...«
Der leise Schmerzenslaut erregte die Aufmerksamkeit der Prinzessin. Mathilda von England warf ihrer Edeldame einen fragenden Blick zu und entdeckte den roten Fleck auf der kostbaren schweren Seide.
»So passt doch auf!«, rief sie halb entsetzt, halb tadelnd. »Ihr ruiniert die Seide, Roselynne! Schnell, wascht das Blut aus! Was ist mit Euch? Ihr neigt doch sonst nicht zur Ungeschicklichkeit.«
Roselynne de Cambremer neigte den Kopf tiefer über die Stickarbeit und nahm den Verweis ohne Erwiderung hin. Prinzessin Mathilda, die jüngste Tochter des Eroberers, vereinte die zierliche Figur ihrer schönen Mutter und den herrschsüchtigen Charakter ihres Willensstärken Vaters in sich. Es war nicht ratsam, ihr zu widersprechen, denn sie neigte dazu, ungehorsame Edeldamen mit Bergen von langweiliger Arbeit zu bestrafen. Roselynne hütete sich davor, aufzubegehren. Sie hatte schon früh gelernt, ihre wahren Gefühle und Gedanken hinter scheinbarer Folgsamkeit zu verbergen.
So murmelte sie demütig eine Entschuldigung und eilte davon, den Befehl auszuführen. Sie war dankbar, dass sie der ermüdenden Damenrunde im Sonnenzimmer und auch den merkwürdigen Empfindungen entkam, die sie so unerwartet verstört hatten. Noch jetzt raste ihr Herz, und es schien ihr, als wollten alle Farben, Laute und Gerüche dieses Herbsttages ihr bis unter die Haut dringen.
Sie hielt inne, um Atem zu schöpfen, sobald sie die Kammertür hinter sich geschlossen hatte. Wie kam es, dass sie außer dem eigenen Herzschlag so deutlich den eines anderen Menschen zu spüren glaubte? Eine unsichtbare Gegenwart, so verheerend eindringlich, dass sie in jäher Schwäche Halt an der nächsten Wand suchte. In aufkommender Panik blickte sie sich um.
Doch da war keine Menschenseele. Der hallende Gang vor den Gemächern der Prinzessin, dessen Boden in weiß-schwarzem Würfelmuster flirrte, war leer. Er führte um die nächste Ecke herum zur großen Treppe in die Halle hinunter, und von dort drang das übliche Stimmengewirr zu ihr herauf. Unten standen auch die Wachen, die niemanden nach oben ließen, der nicht von einem Mitglied der königlichen Familie dazu eingeladen wurde.
Dennoch, sie war nicht allein! Befremdliche Gefühle überfluteten sie gleich einem Sturzbach und machten sie zittern. Woher nur kamen der wilde Zorn, die Trauer, das hoffnungslose Verlangen nach Wärme und Licht? Weshalb sollte sie sich nach Rache und Vergeltung sehnen? Warum in einer Einsamkeit erstarren, die jeden Funken von Leben erstickte?
Gütiger Himmel, wenn ihr Auge niemanden wahrnahm, dann musste dieser rätselvolle Geist in ihr selbst geschlummert haben, wie eine teuflische Besessenheit, die aus einem nichtigen Anlass ausbrach und sie beinahe um den Verstand brachte. Der Blutstropfen hatte den Dämonen geweckt, und nun würde sie mit ihm und seinen Schmerzen leben müssen.
»Ist Euch nicht wohl, Dame Roselynne? Kann ich Euch zu Diensten sein?«
Roselynne fuhr zusammen. Ihre Hände zitterten und zerknüllten die blutige Seide, und sie benötigte all ihre Kraft, um einen Schrei zu unterdrücken. Ein königlicher Page verharrte vor ihr im Gang und sah sie aus großen, bewundernden Knabenaugen an. Roselynne versuchte sich an seinen Namen zu erinnern, aber es waren zu viele Jünglinge, die bei Hofe ihre Pflicht taten; sie alle glichen sich in ihrem Bemühen, möglichst schnell erwachsen zu werden.
»Danke, das ist nicht nötig. Ich habe ...«, sie holte tief Luft und zwang sich zur Beherrschung, »... nur eine kleine Schwäche. Es geht schon wieder.«
Roselynne lächelte ihn unsicher an, raffte ihre Röcke und eilte weiter zu den Wirtschaftsräumen der Burg. Sie wollte nicht zu allem Überfluss auch noch Gegenstand des Klatsches werden.
Als ihre Finger die Seide mit kühlem Brunnenwasser wuschen, um die hässlichen Blutspuren zu beseitigen, versuchte sie erneut ihre eigentümlichen Empfindungen zu deuten. Es kam ihr so vor, als hätte sie unverhofft die Grenze zwischen zwei Welten durchschritten. Einen Schritt getan, den sie nie hatte machen wollen.
Das Bild eines schroffen Turmes nahm vor ihrem inneren Auge Gestalt an. Kantig und mächtig wuchs er in den Himmel, aber seine dunklen Steine waren von einem Meer aus blühenden Rosen
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