Herz im Spiel
ihr Vormund war, zu verstehen.
„Der Herr besitzt ein Landgut in der Umgebung von Kingsbrook. Ich glaube, er möchte dich dort unterbringen.“
„Ich soll London verlassen?“
„Es ist nicht weit“, erläuterte Carstairs. „Und du wirst zweifellos in einigen Wochen wieder zurück sein.“
Horace Carstairs musste sich zu seiner Schande eingestehen, dass er bis zum heutigen Abend die Möglichkeiten, die Marianne ihm eröffnete, nicht erkannt hatte. Sie war ein unverdorbenes junges Mädchen und, soweit er wusste, Jungfrau. Wenn Desmond ihrer überdrüssig war, konnte er ihre Dienste von Neuem verkaufen.
„Und wer ist nun der Herr, den ich besuchen soll?“, wollte Marianne wissen. Endlich stellte sie die Frage, die sie am meisten beschäftigte.
Doch ihr Vormund schüttelte den Kopf und zuckte die Schultern. „Du kennst ihn nicht“, sagte er.
„Ein Philanthrop.“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Für Marianne war offensichtlich, dass jeder Mann, der sie von Onkel Horace fortnahm, ein Menschenfreund sein musste.
Als Marianne am nächsten Morgen aufstand, teilte man ihr mit, Mr Carstairs sei in aller Frühe nach Barnett aufgebrochen, um einen Kredit aufzunehmen.
Sie war verwirrt und erschrocken. Onkel Horace war abgereist, ohne ihr das Geringste über ihre neuen Lebensumstände mitzuteilen. Als Bette sie über Mr Carstairs’ plötzliche Geschäftsreise informierte, war die junge Frau mit einem Mal nicht mehr sicher, ob sie die gestrige Episode nicht geträumt hatte. Es war spät gewesen, und vielleicht war sie eingeschlafen. In ihrer unbequemen Lage am Fußende des Bettes hatte sie wohl besonders lebhaft geträumt.
Mit der Nachmittagspost traf jedoch ein Brief ein, der ihre vage Erinnerung bestätigte.
Miss Trenton ,
Ihr Vormund hat Sie inzwischen zweifellos über Ihren bevorstehenden Umzug in Kenntnis gesetzt. Ich freue mich darauf, Sie kennenzulernen. Mein Diener wird am Freitagmorgen um sieben bei Ihnen sein. Die Fahrt nach Kingsbrook wird den größten Teil des Tages in Anspruch nehmen, sodass Sie früh aufbrechen müssen .
Bis dahin verbleibe ich, le tiens, ma biche. P. Desmond .
Marianne, deren Französischkenntnisse äußerst dürftig waren, ahnte nicht, dass Mr Desmond sie seinen „Schatz“ genannt hatte, noch war ihr klar, wie unverschämt vertraulich die letzte Wendung des Gentleman gewesen war.
Freitagmorgen stand Marianne bei Sonnenaufgang auf. Als um kurz vor sieben Mr Desmonds Kutscher läutete, war sie angekleidet und erwartete ihn.
Wie Mr Desmond in seinem Brief angekündigt hatte, nahm die Fahrt zu seinem Anwesen in der Nähe von Reading den Vormittag und den größten Teil des Nachmittags in Anspruch. Es war heiß. Um acht Uhr bedauerte Marianne schon, dass sie ihr dreiteiliges Kostüm gewählt hatte, das nur mit der Jacke komplett wirkte.
An einem kleinen Gasthaus am Wegesrand hielten sie an, um zu Mittag zu essen. Marianne war geradezu gerührt, als der Kutscher zwei Einpfundnoten hervorzog und erklärte, Mr Desmond habe sie ihm mitgegeben, um für alle Ausgaben aufzukommen, die sich unterwegs vielleicht ergeben würden.
So genoss Marianne ihr Mahl außerordentlich und trank sogar ein Glas Wein, der sie wunderbar in die Lage versetzte, den Rest der Fahrt in der schaukelnden, drückend heißen Kutsche zu verschlafen.
Erschrocken fuhr sie hoch, als der Kutscher den Wagenschlag aufriss. Er hatte sich als „Rickers“ vorgestellt.
„Wir sind da, Miss“, verkündete der Fahrer jetzt.
„Wo denn?“ Marianne fühlte sich noch ganz benommen vom Genuss des Weines.
„Kingsbrook.“ Mit einer weit ausholenden Geste riss Rickers die beiden Türen der Kutsche auf, und Marianne verschlug es den Atem.
Soeben hatten sie eine Holzbrücke über einen Bach überquert, nach dem zweifellos das Gut benannt war. Die Ufer waren mit Moos und zauberhaften rosa Tausendschönchen bewachsen. Die ungezähmte Schönheit der Landschaft setzte sich im Park fort, der, wie Marianne sogleich erkannte, bepflanzt und instand gehalten werden musste, denn zwischen den Bäumen und Büschen wuchsen in leuchtend bunten Beeten Fliederspeer und Mohn, Dahlien und Azaleen.
Das Bild wurde abgerundet durch ein Reh, das zum Bach hinuntertrippelte. Es beäugte sie vorsichtig, zeigte jedoch keine Angst.
Und dann richtete Marianne den Blick auf das Haus, und ihr stockte der Atem. Das Herrenhaus von Kingsbrook erhob sich aus den umliegenden Feldern und Wiesen und machte auf das junge Mädchen den
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